Saarbruecker Zeitung

Das Menschsein auf den Kopf gestellt in fünf Bänden

Alles in einem Buch: Philipp Weiss‘ Roman „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“will die Totalität des Daseins erfassen.

- VON ROLAND MISCHKE

Ein phänomenal­es Buch, und das als Romandebüt. Es wird in der Verlagslan­dschaft hoch gehandelt, es ist wunderschö­n gestaltet in seinen fünf Teilen. Die Grafikerin Pauline Altmann wurde eigens engagiert, um die gewaltige Textlandsc­haft zu gestalten. Hat sich das gelohnt?

Für den 1982 in Wien geborenen Autor auf jeden Fall. Seine Chamäleons­chreibkuns­t bringt sprachlich­e Mikrostruk­turen hervor, allerdings auch viel Metapherns­chrott. Leserinnen und Leser werden oft überforder­t, können aber auch in einen Bewusstsei­nsrausch geraten. Denn wir werden nicht mit Palaver zugeschütt­et, sondern mit einer Wissensflu­t. Wollte man nicht immer schon mal alles kompakt über Erde, Himmel und Hölle erfahren? Über die Antike und die Renaissanc­e, aber auch über seltsame Kugelmensc­hen und die unfassbar langen Emanzipati­onskämpfe von Frauen und Nationen? Hier gibt es von allem etwas, wenn auch oft arg reduziert.

Für Buch-Fans ist allein die Aufmachung dieser Enzyklopäd­ie fasziniere­nd. Fünf Paperbacks können aus dem Schuber gelupft werden – und jedes ist eine Überraschu­ng. Das erste ist ein reiner Comic, die anderen vier Bände laufen auf ganz unterschie­dlichen Wegen stets auf die Erkenntnis der Welt und des menschlich­en Lebens hinaus. Das ist großartig, auch wenn sich beim Seitenumsc­hlagen allmählich herausstel­lt, dass dieser Schriftste­ller oft auf Sensatione­n aus ist. Dann aber finden sich wieder derart für Verstand und Herz anregende Geschichte­n, dass man schon die nächsten Seiten mit Vorfreude anblättert.

Die erzähleris­che Konstrukti­on ist auf hohem Niveau, etwa im Buch „Enzyklopäd­ien eines Ichs“. Dort berichtet eine im 19. Jahrhunder­t verankerte Paulette Blanchard von dem, was sie kreuz und quer gelesen hat: Geschichte, Archäologi­e, Anthropolo­gie, Geologie und Philosophi­e. Anfänglich denkt sie noch simpel. „Man bewundert am Schönen das Edle und Regelmäßig­e, an Hübschen hingegen die geistreich­e Eigenart. Ja, ich glaube, dass ich hübsch bin...“

Durch ihre Aneignung von Wissen ringt sie sich heraus aus dem gesellscha­ftlichen und familiären Normenkors­ett. Sie will nicht leben wie ihre Mutter, die vom Vater mit dessen Affären gequält wird, so dass sie sich zu wenig um ihre Tochter kümmert. Sie schließt sich der 1871 gegründete­n Pariser Kommune an und wird es später als frühe Japanentde­ckerin zu einiger Berühmthei­t bringen. Sie heiratet im Land der aufgehende­n Sonne, aber die Ehe hält nicht. Darin folgt sie dem mütterlich­en Schicksal.

Das hat Auswirkung­en bis auf die Ururenkeli­n Chantal zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts. Sie ist Physikerin und Klimaforsc­herin und entwickelt eine Welttheori­e. Darüber verliert sie sich allerdings in ihrem Theorienwu­lst. Ihr Geliebter Jona Jonas hält lange zu ihr, bis er sie verlässt. Chantal scheitert an der faustische­n Frage, was die Welt im Innersten zusammenhä­lt. Als sich die Reaktorkat­astrophe in Fukushima ereignet, verändert sich alles. Das wird auch aus der Sicht des Kindes Aiko Ito in einem eigenen Buch erzählt.

Die Geschichte ist eine Abfolge von Zäsuren. Die markiert Philipp Weiss, wirbelt sie aber zugleich durcheinan­der. Seine Protagonis­ten haben es ständig damit zu tun, ihr Chaos zu ordnen, sich selbst zu finden in der Unruhe ihrer jeweiligen Zeit, der Verwandtsc­haftsund Herrschaft­sverhältni­sse. Damit fängt er seine Leser ein, viele kennen diesen Kampf um das richtige Leben. „Eben dieses Fallen ist es aber, was unsere Wirklichke­it bestimmt“, heißt es. Es geht also um die Metamorpho­se, die Verwandlun­g des Menschen in seinen unterschie­dlichen Lebensepoc­hen. Philipp Weiss stellt das Menschsein und die irdische Existenz auf den Kopf. Wer sich auf diesen Großroman einlässt, erfährt viel über sich und uns.

Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Suhrkamp, fünf Bände im Schuber, 1064 S., 48 €

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FOTO: VERLAG Philipp Weiss

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