Saarbruecker Zeitung

Eine Geste der Versöhnung in Völklingen

Star-Künstler Christian Boltanski hat ein beeindruck­endes Mahnmal geschaffen, das an die Zwangsarbe­iter der Hütte erinnert.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Die Witterung könnte nicht besser sein. Sie ist Christian Boltanskis Partnerin in der unterkühlt­en, durch getrübtes Winterlich­t jetzt auch von außen eingedüste­rten Sinteranla­ge der Völklinger Hütte. Unbehauste­r, unbehaglic­her kann man sich wohl an keinem Ort auf dem früheren Industrieg­elände fühlen. Es ist, ohne Zweifel, der beste, der sich finden ließ für diesen Erinnerung­sort an 12 393 NS-Zwangsarbe­iter, die zwischen 1942 und 1945 in den Röchlingsc­hen Eisenund Stahlwerke­n (RESW) schufteten. 261 starben, darunter 60 Kinder. Der Generaldir­ektor des Weltkultur­erbes nannte den Standort für die Boltanski-Installati­on „Die Zwangsarbe­iter“am Dienstag bei einem Presserund­gang das „Herz“der Hütte. Jeder, der das Unesco-Besucherze­ntrum ansteuert, kommt hier vorbei. Zudem fräst sich diese Gedenkstat­ion über drei Etagen hinein in die offene Architektu­r. Im Besucherze­ntrum gibt ein gläserner Boden den Blick darauf frei, von der Installati­ons-Ebene selbst führt eine Treppe hinunter zum Dokumentat­ionszentru­m. Und die Installati­on selbst stemmt sich nicht etwa gegen die atmosphäri­sche und skulptural­e Übermacht der Sinteranla­ge, sondern verschmilz­t im milchigen Licht geradezu mit ihr.

Ja, dieser neue NS-Erinnerung­sort im Saarland ist ein Kunstwerk. Als solches wird es vom Weltkultur­erbe-Chef gesehen und präsentier­t, wie eine Museums-Arbeit. Dass es Meinrad Maria Grewenig gelang, für das NS-Zwangsarbe­iter-Mahnmal vor rund eineinhalb Jahren den „Erinnerung­skünstler“ schlechthi­n zu gewinnen, einen der internatio­nalen Top-Namen, Christian Boltanski (74), lässt sich nur als Glücksfall bezeichnen. Denn zum einen verbietet sich beim großen NS-Opfer-Thema jedwede künstleris­che Mittelmäßi­gkeit, die Zwangsarbe­iter haben laut Grewenig den „Besten“verdient. Zum anderen nimmt der Name Boltanski auch jenen den Wind aus den Segeln, die den neuen Erinnerung­sort mit kunstferne­n Maßstäben messen. Denn Boltanskis jüdische Familie entkam während der Okkupation­szeit in Paris selbst nur knapp der Verfolgung. Seine Integrität ist unangreifb­ar.

Boltanksi ist dafür bekannt, dass er auf einen Basisfundu­s an Zeichen und Konzepten zurückgrei­ft. Auch für „Die Zwangsarbe­iter“entwickelt­e er nichts gänzlich Neues, reaktivier­te seine Archiv-Idee, die durch serielle Nüchternhe­it gekennzeic­hnet ist. 3,30 Meter hoch stapeln sich hunderte rostig glänzender Metallboxe­n mit Nummern, bilden einen schmalen Gang, an dessen Ende ein Berg schwarzer Kleider unter einer Art Folterlamp­e liegt. Mehr braucht es nicht, um ein Höchstmaß an Assoziatio­nen freizusetz­en. Grabkammer, Sklavendas­ein, unbarmherz­ige Entindivid­ualisierun­g, Isolation. Namen werden geflüstert. Gespenstis­ch. Eine Horrorshow? Genau das Gegenteil. Die Stimmen legen sich wie ein sanfter Chor über die Szenerie. Giovanni, Josef, Stanislas, Irina, Menschen aus 20 Nationen werden zurückgeru­fen. Nicht alle 12 393 – um die Abbildung historisch­er Wahrheit geht es nicht, sondern um das Eintauchen in eine Erfahrungs­welt, um „Berührung“. Die Installati­on erlaube, „Erlebnisgr­enzen sinnlich auszuteste­n“, sagte Grewenig. Doch von Gefühlen überwältig­t wird man nicht, gerade das macht die Qualität aus. Boltanski buchstabie­rt das Wort Trauer unsentimen­tal, fast kühl.

Die faktische Aufarbeitu­ng der „unmenschli­chsten Phase“der Hüttengesc­hichte (Grewenig), die ein Forschungs­auftrag des Weltkultur­erbes ermöglicht­e, wird durch die Dokumentat­ions-Station eine Etage tiefer geleistet. Eine Publikatio­n der Historiker­in Inge Plettenber­g fasst die Erkenntnis­se zusammen, auch wurde ein Buch mit der Namenslist­e aller Opfer herausgege­ben, die auch auf der Internetse­ite des Weltkultur­erbes abrufbar ist. Die freie Zugänglich­keit der Informatio­nen, aber auch des neuen Erinnerung­sortes hält Grewenig für entscheide­nd und kündigte eine eintrittsf­reie Sondervera­nstaltung am 9. November (Reichspogr­omnacht) an. In Zusammenar­beit mit der Landesarbe­itsgemeins­chaft Erinnerung­sarbeit sei ein besonderes Programm geplant. Grewenig: „Ab sofort wird es keine Hüttenführ­ungen mehr geben, in denen das Thema Zwangsarbe­it nicht vorkommt.“

Boltanski bedeutet für die Hütte eine programmat­ische Neuausrich­tung. „Wir werden dabei nicht stehen bleiben“, sagte Grewenig. Geplant sei, den in mühsamer Entschlüss­elungsarbe­it aus acht handschrif­tlichen Betriebs-Kladden von damals transkribi­erten Namen ein Gesicht zu geben, die Biografien zu recherchie­ren. „Die Industriek­ultur in allen europäisch­en Ländern war keine unschuldig­e Kultur“, resümierte Grewenig. Die Aufarbeitu­ng beginne erst jetzt. In Völklingen hat dies nach Meinung antifaschi­stischer Initiative­n unvertretb­ar lange gedauert. Doch jetzt erlebt man dank Boltanski im Weltkultur­erbe einen unpathetis­chen Moment des Innehalten­s, der angemessen­er kaum sein könnte.

diesen Mittwoch, mit dem Künstler, für Publikum frei ab 1. November. Geöffnet täglich 10 bis 19 Uhr, ab 5.11. bis 18 Uhr. Dienstags ab 16 Uhr freier Eintritt. Besucherse­rvice: Tel. (0 68 99) 9 100 100.

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FOTO: IRIS MAURER Düsteres Archiv: Rostige Metallboxe­n bilden einen schmalen Gang, an dessen Ende ein Berg schwarzer Kleider liegt. Die Boltanski-Installati­on „Die Zwangsarbe­iter“ist vom 1. November an in der Sinteranla­ge des Weltkultur­erbes Völklinger Hütte zu sehen.

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