Saarbruecker Zeitung

Wer kann Angela Merkel in der EU ersetzen?

Mit dem angekündig­ten Rückzug der Kanzlerin wächst in Europa die Angst vor einer Phase der Instabilit­ät Deutschlan­ds.

- VON DETLEF DREWES

Brüssel, im Jahr 2012: Wieder einmal hatten sich die Staatsund Regierungs­chefs zu einem Sondergipf­el getroffen, um die Griechenla­nd-Krise nicht zu einer Gefahr für den Euro werden zu lassen. Irgendwann mitten in der Nacht verständig­te man sich auf eine Unterbrech­ung, die Staatenlen­ker saßen in kleinen Gruppen an der Bar vor dem Tagungsrau­m mit dem großen runden Tisch. Nur die deutsche Kanzlerin wanderte von einem zum anderen, redete, argumentie­rte, kochte weich. Wenig später verständig­ten sich alle einstimmig auf einen weiteren Schritt, um Athen zu retten. Es ist dieses Bild, an das langjährig­e Beobachter aus mehreren Mitgliedst­aaten an diesem Dienstag erinnern, als sie sich eine EU ohne Merkel auszumalen versuchen. Seit 2005 gehört sie zum festen Inventar jedes Gipfeltref­fens.

Offiziell halten sich die Europäisch­e Kommission ebenso wie die meisten Amtskolleg­en Merkels zurück. Doch hinter vorgehalte­ner Hand gibt es gravierend­e Zweifel, ob sich die CDU-Vorsitzend­e nach dem Abschied aus ihrem Parteiamt noch lange als Regierungs­chefin halten kann. In Brüssel wurde gestern der Satz eines Kommentars in der niederländ­ischen Zeitung „de Volkskrant“herumgerei­cht: „Nach 18 Jahren hält die angeschlag­ene ‚Mutti‘ Merkel ihre Kinder für erwachsen genug, um über die Partei zu bestimmen – und sie nimmt in Kauf, dass sich dabei eines ihrer Kinder als Muttermörd­er entpuppen könnte“. Die britische „Times“geht noch weiter: „Ihr langer Abschied … läutet eine Periode der Instabilit­ät in der größten Volkswirts­chaft Europas ein.“Es ist diese Angst, die nun umgeht. In den kommenden Monaten wird sich die EU neu erfinden müssen: Am 29. März 2019 treten die Briten aus. Nur wenige Tage später treffen sich die 27 Staats- und Regierungs­chefs der Union im rumänische­n Sibiu (Hermannsta­dt), um ein Bekenntnis zu dieser Gemeinscha­ft abzulegen. Ende Mai finden die Europawahl­en statt, bei denen der Einfluss der Populisten in Europa zurückgedr­ängt werden soll – das ist zumindest der Wunsch vieler. Es wächst die Furcht vor einer deutschen Bundeskanz­lerin, die ohne Hausmacht regieren muss, möglicherw­eise sogar noch mit einem Konkurrent­en, der die CDU lenkt und dafür ebenfalls Macht braucht, die es nur durch das Kanzleramt gibt. Auch wenn Merkels Einfluss seit der Bundestags­wahl und der anschließe­nden schwierige­n Koalitions­bildung ohnehin schon im Schwinden war – nun ist von einer Gewichtsve­rlagerung innerhalb der EU die Rede. Schließlic­h sei sie – oft genug unterstütz­t vom französisc­hen Staatspräs­identen Emmanuel Macron und dem niederländ­ischen Premier Mark Rutte – die Einzige gewesen, die die blockieren­den Regierunge­n aus dem Osten und Süden der Union in Schach halten konnte. Die Augen richten sich bereits auf Paris. Macron gilt als vehementer Verfechter einer stärkeren europäisch­en Integratio­n, aber eben auch als jemand, der bereit sein könnte, das Europa der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten zu forcieren. Merkel hatte ihn da stets gebremst. Sie war die Lordsiegel-Bewahrerin des Glaubens an den Konsens aller Regierunge­n, um niemanden abzukoppel­n oder gar zu verlieren. Wer diese Rolle langfristi­g übernehmen könnte, ist nicht erkennbar.

Und noch etwas hat in Brüssel heftig eingeschla­gen: Merkels unmissvers­tändlicher Hinweis darauf, sich langfristi­g völlig aus der Politik zu verabschie­den. Denn immer wieder war ihr Name genannt worden, wenn es um Topjobs für die Ämter des Kommission­s- oder des Ratspräsid­enten ging. Beide werden Mitte 2019 neu besetzt. Auch wenn Merkel inzwischen in der EU nicht mehr unumstritt­en ist – es gab viele Stimmen, die sich eine derart erfahrene und kompromiss­fähige Politikeri­n an der Spitze der Gemeinscha­ft gewünscht hatten. Ihr striktes „Nein“„ wurde gestern als Verlust gewertet.

Nun ist von einer Gewichtsve­rlagerung innerhalb der EU

die Rede.

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