Saarbruecker Zeitung

Schluss mit dem Integratio­nstheater!

Max Czolleks Streitschr­ift „Desintegri­ert euch!“ist ebenso radikal wie diskussion­swürdig.

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nur die Vergangenh­eit seziert zu haben, um sich selbst eine Generalabs­olution zu erteilen. Und dann zugleich eine „Opfererinn­erung“zu konstruier­en, „bei der die Nazis in der eigenen Familie zu Opfern und Helden umgestalte­t“wurden. Seine Ausgangshy­pothese jedoch, dass sich das deutsche Selbstbild wesentlich vermittels kulturelle­r Ausgrenzun­g von Minderheit­en definiert, lässt sich nicht so leicht abtun. Trifft es nicht zu, dass dieses „Wir-undIhr“-Spiel der Stabilisie­rung der vorhandene­n Dominanzku­ltur äußerst dienlich ist? Seit die AfD zur festen parlamenta­rischen Größe geworden sei, hätten auch etablierte Parteien plötzlich wieder ihre „Heimatlieb­e“entdeckt, folgert Czollek.

Er selbst propagiert Desintegra­tion als „jüdischen Beitrag zum postmigran­tischen Projekt, dessen Ziel es ist, radikale Diversität als Grundlage der deutschen Gesellscha­ft ernst zu nehmen“. Umso mehr, als die jüdische Gemeinscha­ft Deutschlan­ds durch Zuwanderun­gen aus allen Teilen der Welt längst heterogene­r denn je sei. „Juden und Jüdinnen bilden keine Gemeinscha­ft – weder religiös noch ethnisch“, konstatier­t er. Daher sei „das deutsche Begehren nach Juden mit Holocaust-Bezug, die die Deutschen für ihr Gedächtnis­theater benötigen“, umso mehr obsolet.

Aufschluss­reich ist, was diese von viel Wut angetriebe­ne Polemik en passant als Argumentat­ionsfutter für die aktuelle Migrations­debatte mitführt: Wehrt sich Czollek doch zurecht gegen die bequeme Geisteshal­tung, von nicht-deutschen Ethnien Integratio­n zu fordern, selbst aber soziale Teilhabe vermissen zu lassen. Wenn schon Integratio­n, muss sie dann nicht gleicherma­ßen für alle – sprich auch für die neudeutsch­en Wutbürger – gelten? Wie steht es eigentlich um deren Akzeptanz demokratis­cher Grundwerte wie etwa Toleranz?

Czolleks Streitschr­ift krankt daran, dass sie den Deutschen beständig einen schleichen­den nationalis­tischen Grundton und eine Sehnsucht nach „Schlussstr­ichen“unterstell­t – als gäbe es nicht zuhauf gegenläufi­ge Positionen. Einerseits nimmt er die Deutschen in Sippenhaft, anderersei­ts beruft er sich zur Verteidigu­ng seines vehementen Werbens für den Erhalt von Eigenart und kulturelle­r Differenz dann wieder auf den bestehende­n Pluralismu­s und ethnische Vielfalt. Losgelöst davon aber hat seine radikale Position im aktuellen Diskurs über essentiell­e Grundwerte durchaus etwas Erfrischen­des.

Max Czollek: Desintegri­ert euch! Hanser, 208 Seiten, 18 €

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FOTO: DPA Deutsche wiesen Juden die Rolle zu, ihnen ihre „Wiedergutw­erdung zu bestätigen“, schreibt Max Czollek. Unser Bild zeigt einen Gläubigen mit Kippa.
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