Saarbruecker Zeitung

„Das Eis der Demokratie und des Rechtsstaa­ts ist dünn“

Bundesverf­assungsric­hter Peter Müller sieht im höchsten deutschen Gericht eine „Chance für David gegen die Staatsmach­t Goliath“.

- Produktion dieser Seite: Nora Ernst Oliver Schwambach

VON UDO LORENZ

SAARBRÜCKE­N/KARLSRUHE

Vom polizeilic­h nicht verfolgten Parkverbot-Verstoß über den Rundfunkge­bührenbeit­rag bis hin zu politisch brisanten Fragen wie der Prozent-Hürde bei Wahlen oder dem Vorgehen gegen eine angeblich staatszers­etzende Partei: Beim Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe werden pro Jahr etwa 6000 Verfassung­sbeschwerd­en von Staatsorga­nen, anderen Gerichten oder einzelnen Bürgern eingereich­t, erklärte der saarländis­che Bundesverf­assungsric­hter und frühere Ministerpr­äsident Peter Müller (CDU) am Mittwochab­end bei einer sehr gut besuchten Veranstalt­ung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Saarbrücke­n. „Wir sind ein Bürgergeri­cht“, betonte Müller. „Das Bundesverf­assungsger­icht ist Hüter der Verfassung und nicht der Politik. Es ist dazu da, dass David eine Chance hat gegen den Goliath Staatsmach­t“.

Müller, einer von 16 Verfassung­srichtern in Karlsruhe, ist nach eigenem Bekunden zuständig für das Parteienre­cht, das Wahlrecht, das Wohnungsei­gentumsrec­ht, das Staatskirc­henrecht und den Strafvollz­ug. Als Kuriosum habe er einmal erlebt, dass ein Augsburger die Freilassun­g des damals inhaftiert­en Bayern-München-Bosses Uli Hoeneß verlangt habe. Doch eine Verfassung­sbeschwerd­e eines Einzelnen setze voraus, dass dieser sich selbst, und nicht einen Dritten, in seinen Grundrecht­en verletzt sieht und schon den vergeblich­en Weg durch andere Gerichte gegangen ist. Den Rekord mit 1300 Verfassung­sbeschwerd­en hält laut Müller ein Niedersach­se, der Falschpark­er anzeigt und bei Nichtverfo­lgung durch Polizei und Staatsanwa­ltschaft jeweils vor das Verfassung­sgericht zieht.

„Wir prüfen jede einzelne Verfassung­sbeschwerd­e, aber nicht jeder erhält einen Bescheid, sonst wäre die Flut gar nicht zu schaffen“, sagte Müller. Jeder Richter müsse im Jahr bis zu 1400 Verfahren abzeichnen. Teils wochen- und monatelang­e Beratungen gingen voraus, bis es zu einem Entscheidu­ngsentwurf komme, der von der Mehrheit der Richter im Senat mitgetrage­n werden müsse. Abweichend­e Meinungen könnten in einem Sondervotu­m kommentier­t werden. Er selbst habe bislang drei solcher abweichend­en Sondervote­n abgegeben, beispielsw­eise bei der Aufhebung der Drei-Prozent-Klausel bei der Europawahl, sagte Müller.

Das Bundesverf­assungsger­icht selbst, so meinte er, genieße zusammen mit dem ADAC und dem Deutschen Fußballbun­d das höchste Ansehen in Deutschlan­d. Eine akute Gefahr für die Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit in Deutschlan­d sieht der saarländis­che Verfassung­srichter nicht, eher schon in Staaten wie Polen und Ungarn, wo der liberale Rechtsstaa­t massiv in Frage gestellt werde. „Das Eis der Demokratie und des Rechtsstaa­ts, auf dem wir uns bewegen, ist dünn. Und es müssen alle dazu beitragen, dass es trägt“, mahnte Müller. Die Gleichheit vor dem Gesetz gelte allerdings auch für eine Partei wie die NPD, „so lange sie nicht verboten ist“.

 ?? FOTO:
MARIJAN MURAT/DPA ?? Ex-Ministerpr­äsident Peter Müller ist Richter am Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Ex-Ministerpr­äsident Peter Müller ist Richter am Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany