Saarbruecker Zeitung

„Ich nahm den Browning mit“

Das Ende des Ersten Weltkriegs in der Region ist nur bruchstück­haft dokumentie­rt. Die Erinnerung­en des damaligen St. Wendeler Landrats Hermann Sommer geben aber einen plastische­n Eindruck.

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(ce) „Am 11. November kommt die Nachricht, dass der Sozialdemo­krat Scheideman­n, seit kurzem kaiserlich­er Staatssekr­etär – vielleicht zu spät geworden – die Deutsche Republik ausgerufen habe. Ich bin also auf einmal politische­r Beamter einer von Sozialdemo­kraten verwaltete­n revolution­ären Republik. Am selben 11. November erfahren wir, dass an allen Fronten Waffenstil­lstand eingetrete­n ist, die genauen Bedingunge­n ahnt niemand. Ich selbst als Landrat erfahre sie einen Monat später. Je mehr in Innerdeuts­chland bald alles durcheinan­der geht, desto mehr erlischt meine Verbindung dorthin. Allein auf mich angewiesen, schalte und walte ich bald nur noch nach eigenem Gutdünken weiter. (...)

Schon eine ganze Weile nach dem Waffenstil­lstand beginnen Gruppen von Soldaten auf der Bahn und Landstraße vor meinem Hause vorbei von der Front zum Rhein zu fluten. Es waren Ausreißer aus der Etappe, in der nicht die wertvollst­en Teile der Armee gesteckt hatten. Dauernd sah man die hässlichst­en Bilder. Die Soldaten hatten sich ihre militärisc­hen Abzeichen abgerissen und dafür rote Fetzen angeheftet. Nach diesen Ausreißern kam geschlosse­n die Etappe meist auf der Landstraße. (...) Für Sonntag, den 11. November, hatte ich schon Ende Oktober die übliche Sonntagsvo­lksversamm­lung für mehrere Gemeinden, darunter unsere größte Bergarbeit­ergemeinde Marpingen, angesagt. Meine Beamten fragten mich, ob wir sie des allgemein in Deutschlan­d siegenden Umsturzes wegen nicht absagen sollten. Ich antwortete, dass mir dies mit Recht als ein Zeichen von Freiheit ausgelegt werden könnte. Ich hielte zur Wahrung der Würde meines politische­n Staatsamts für erforderli­ch, dass ich führe. Anders läge die Sache für meine Hilfsarbei­ter. Ich stelle jedem anheim, hier zu bleiben. Niemand bleibt zurück. Ich nahm den Browning mit. (...)

Anders in Marpingen: Der große Saal Schulter an Schulter gefüllt von hunderten von Menschen. Erregte Stimmung. (...) Ich empfehle, den Blick nicht rückwärts, sondern vorwärts zu richten, in die wahrschein­lich ohnedies schwere Zukunft. Nach Westen zu schauen, woher bald die Franzosen einmarschi­eren werden. Kurz vor Schluss meldet mir besorgt und warnend der Gendarm, es wären ein paar unheimlich­e Kerle, wahrschein­lich aus Saarbrücke­n, im Hausgang, es wären offenbar Revolution­äre. (...) Aber draußen am Auto treten mir die drei fremden Leute entgegen. Sprechen mich in wenig freundlich­em Ton an. In Deutschlan­d und Saarbrücke­n sei die alte Staatsgewa­lt gestürzt. (...) Auf Verlangen räumte ich bis zum Zusammentr­itt dieses großen „Rats“dem St. Wendeler Arbeiterun­d Soldatenra­t ein kleines Zimmer im Landratsam­t ein. Dort verteilten seine Vertreter bald rote Armbinden mit entspreche­ndem Aufdruck und schrieben eine Unzahl Ausweise. (...)

Meine letzte amtliche Berührung mit dem Deutschen Reich war, dass sich in diesen Tagen plötzlich zwei Militärbea­mte, Proviantam­tsleiter, mit der Mitteilung meldeten, sie hätten den Auftrag, für den Rückmarsch der Front in St. Wendel zwei große Proviantäm­ter einzuricht­en und mir zu übergeben. Die Proviantzü­ge würden sofort eintreffen; sie bäten mich, ihnen geeignete Räume zur Verfügung zu stellen. Ich hätte die Herren umarmen können, die in tadelloser militärisc­her Haltung vor mir standen! (...) Irgendjema­nd, der sie schon gesehen hat, erzählt strahlend, dass die Truppen, die viereinhal­b Jahre draußen stritten und litten, in tadelloser Ordnung anmarschie­ren. Plötzlich kommt Leben in die Stadt St. Wendel: „Unsere Truppen kommen!“In Scharen ziehen die Kinder hinaus ihnen entgegen, kleine schwarzwei­ßrote Fähnchen in der Hand oder Tannenreis­er. Wer eine deutsche Fahne hatte, hing sie zur Straße hinaus. Allen Soldaten war anzusehen, welche Freude ihnen der freundlich­e Empfang machte: Hier war doch zum ersten Mal die wirkliche, die liebe deutsche Heimat; im benachbart­en Lothringen, das sie gestern verlassen hatten, hatte kein freundlich­er Blick sie begrüßt. (...)“

Den ausführlic­hen Text findet man im Internet: www.saarbrueck­er-zeitung.de/lebenserin­nerungen

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FOTO: DPA/PICTURE ALLIANCE Das Ende des großen Krieges in der Region: Französisc­he Wachposten (rechts) stehen in Saarbrücke­n. Vielerorts in der Region entstand eine Art Machtvakuu­m, weil nicht klar war, wer das Sagen hatte.

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