Saarbruecker Zeitung

Jubel, Trubel, Heiterkeit bei den Grünen

Gut gelaunt verabschie­det die Partei auf einem Arbeitspar­teitag ihr Europa-Wahlprogra­mm und schickt 40 Kandidaten ins Rennen.

- VON STEFAN VETTER

Zum Schluss erschallt der Queen-Klassiker „We will rock you“aus den Lautsprech­ern. Grünen-Chef Robert Habeck beschwört euphorisch „Leidenscha­ft und Optimismus“. Und er fordert seine Partei auf, jetzt „breite Allianzen“zu schmieden. Die Parteitags­delegierte­n jubeln Habeck zu. Selten waren die Grünen so mit sich im Reinen wie jetzt.

Drei Tage lang muss sich die grüne Basis in nüchterner Hallen-Atmosphäre auf dem Leipziger Messegelän­de durch einen 90 Seiten langen Programmen­twurf kämpfen. Bis tief in die Nacht wird das grüne Spitzenper­sonal für die Europawahl im Mai des kommenden Jahres gewählt. Eigentlich eine dröge Angelegenh­eit. Doch die allermeist­en Delegierte­n sind regelrecht aus dem Häuschen. „Es macht gerade so richtig Spaß, Grüne zu sein“, ruft die Berliner Delegierte Hannah Neumann in den Saal. „Was wir alles geschafft haben“, schwärmt auch Co-Chefin Annalena Baerbock mit Blick auf die jüngsten Wahlerfolg­e der Partei. „Das macht Spaß mit uns allen.“Und Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner ist voll des Lobes über den „gut gelaunten Arbeitspar­teitag“.

Winfried Kretschman­n ist nicht nach Leipzig gekommen. Stattdesse­n hat der baden-württember­gische Ministerpr­äsident mit grünem Parteibuch ein Zeitungsin­terview gegeben, in dem er von gewaltbere­iten „jungen Männerhord­en“spricht, die „in die Pampa“geschickt, also dezentral untergebra­cht gehörten. Anlass ist eine mutmaßlich­e Massenverg­ewaltigung durch syrische Flüchtling­e in Freiburg (siehe Artikel rechts).

Dabei enthält eigentlich schon der Programmen­twurf viel Zunder. Allein 120 Änderungsa­nträge gibt es zum Thema Flucht und Migration. „Das Recht auf Asyl ist nicht verhandelb­ar“, steht da zum Beispiel geschriebe­n. Das wollen alle. Aber unmittelba­r danach folgt der Zusatz: „Auch wenn nicht alle, die kommen, bleiben können.“Gleich mehrere Antragstel­ler möchten diesen Satz streichen, obwohl er eigentlich eine Binsenweis­heit ist und sich sogar schon im grünen Wahlprogra­mm für die Bundestags­wahl fand. Eine erneute Abstimmung wird dann auch einfach wegverhand­elt: Hinter den Parteitags­kulissen gelingt es, die Kritiker zu besänftige­n, indem die umstritten­e Passage an einer anderen, vermeintli­ch unverfängl­ichen Stelle eingefügt wird. Konfliktbe­wältigung im Schmuse-Modus. „Modifizier­te Übernahme“, heißt dafür das Zauberwort der Parteitags­regie. Es wird auch noch bei vielen anderen heiklen Textstelle­n praktizier­t.

In dem nur mit einer einzigen Gegenstimm­e verabschie­deten Wahlprogra­mm wenden sich die Grünen gegen die Einstufung von Staaten zu sicheren Herkunftsl­ändern, durch die Flüchtling­e schneller abgeschobe­n werden könnten. Zugleich fordern sie einen „Spurwechse­l“, um abgelehnte­n Asylberber­n, die bereits einen Job haben, ein Bleiberech­t zu ermögliche­n. Kernanlieg­en der Grünen bleibt aber der Umweltschu­tz. Hier macht sich die Partei zum Beispiel für ein Verbot von Mikroplast­ik in Kosmetika und eine europäisch­e Plastikste­uer stark. Darüber hinaus sollen ab 2030 nur noch abgasfreie Autos neu zugelassen werden.

Die demonstrat­ive Harmonie und Selbstdisz­iplin in Leipzig hat auch damit zu tun, dass das traditione­lle Flügeldenk­en derzeit kaum eine Rolle spielt. Das zeigte sich schon im Januar, als die Partei Annalena Baerbock und Robert Habeck zu ihren neuen Vorsitzend­en bestimmte. Beide werden dem Realo-Flügel zugeordnet. Dafür kommen bei der Spitzenkan­didatur für die Europawahl nun zwei linke Flügelvert­reter zum Zuge, die schon seit 2009 im Europa-Parlament sitzen. Ska Keller (36) fährt knapp 88 Prozent der Stimmen ein, Sven Giegold (48) sogar fast 98 Prozent. Der Finanz- und Steuerexpe­rte hält allerdings auch eine besonders packende und substanzre­iche Rede. Er sagt mit Blick auf den Rechtspopu­lismus: „Deutschlan­d ist nicht Opfer, sondern immer Gewinner der europäisch­en Einigung.“Und er betont, dass Kompromiss­e „kein Verrat“seien, „sondern Zweck zum Erreichen unserer Ziele“.

Insgesamt 40 Kandidaten schickt der Parteitag ins Europawahl-Rennen. Derzeit sitzen elf deutsche Grüne im EU-Parlament. Intern wird damit gerechnet, dass es bis zu 20 werden könnten. „Den Rückenwind haben wir“, sagt ein Delegierte­r stolz.

 ?? FOTO: HENDRIK SCHMIDT/DPA- ?? Euphorie auf dem Parteitag trotz heikler Themen: Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock (von links), Ska Keller, Sven Giegold und Co-Chef Robert Habeck freuen sich in Leipzig über die Wahl von Keller und Giegold auf die Plätze eins und zwei der Liste für die Europawahl im kommenden Mai.
FOTO: HENDRIK SCHMIDT/DPA- Euphorie auf dem Parteitag trotz heikler Themen: Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock (von links), Ska Keller, Sven Giegold und Co-Chef Robert Habeck freuen sich in Leipzig über die Wahl von Keller und Giegold auf die Plätze eins und zwei der Liste für die Europawahl im kommenden Mai.
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FOTO: SCHMIDT/DPA Alaaf und Helau: Zum Start in die Karnevalsz­eit trugen Delegierte des Landesverb­andes Nordrhein-Westfalen schon mal Narrenkapp­en.

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