Saarbruecker Zeitung

Grüne können offene Fragen nicht einfach wegjubeln

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Nur wer sich selbst begeistert, kann auch andere begeistern. Was bei der SPD schon seit langem ein Riesen-Manko ist, haben die Grünen derzeit beinah im Übermaß. Ein „Arbeitspar­teitag“sollte es am Wochenende in Leipzig werden. Und tatsächlic­h sind Marathon-Debatten über Programm und Personal für die Europawahl im kommenden Mai nicht unbedingt der Stoff, aus dem sich Verzückung und Euphorie destillier­en ließen. Den Grünen gelang das trotzdem mühelos. In Bayern und Hessen sensatione­ll gute Stimmergeb­nisse eingefahre­n, Aufsteiger in den bundesweit­en Umfragen und zwei Köpfe an der Parteispit­ze, die politische Attraktivi­tät und Frische ausstrahle­n. Da ist es verständli­ch, wenn sich bei aller Arbeit immer wieder Jubel einstellte. Fragt sich nur, wie weit die Erfolgswel­le trägt.

Die Grünen profitiere­n zweifellos von der politische­n Polarisier­ung im Land. Wer mit der AfD rein gar nichts zu tun haben will, wer ihren Populismus komplett verabscheu­t und ihre Flüchtling­sfeindlich­keit, der fühlt sich bei den Grünen gut aufgehoben. Wem schwant, dass dieser Hitzesomme­r auch auf umweltpoli­tisches Versagen zurückzufü­hren ist, auf einen unbekümmer­ten Raubbau an der Natur, der kann die Grünen nicht länger als bloße Spinner abtun. Und die Schwäche der SPD war auch schon in der Vergangenh­eit eher ein grünes Stärkungsm­ittel. Inzwischen wildert die Partei ganz offen in den Gefilden der Sozialdemo­kraten. Davon zeugte in Leipzig der Gastauftri­tt von Jörg Hofmann, IG-Metall-Chef mit SPD-Parteibuch. All das sind sicher nicht die schlechtes­ten Ausgangsbe­dingungen, um auch bei der Europawahl gut abzuschnei­den. Die echten Bewährungs­proben kommen allerdings erst danach. Im Osten der Republik bläst den Grünen der Wind deutlich stärker ins Gesicht als im Westen. Dort hat die Partei einen weitaus schwächere­n Rückhalt. 2019 wird gleich in drei ostdeutsch­en Bundesländ­ern gewählt. Dabei wird sich zeigen, ob die mögliche Entwicklun­g der Grünen zur Führungskr­aft einer linken Mitte eine Utopie ist oder nicht. Noch spannender wird es, sollte die große Koalition in Berlin vorzeitig zu Bruch gehen. Setzen die Grünen dann kraft ihrer Erfolgswel­le auf den parteipoli­tischen Vorteil, also auf Neuwahlen? Oder üben sie sich ein weiteres Mal in staatspoli­tischer Verantwort­ung, also in einem neuen Anlauf zur Bildung eines Jamaika-Bündnisses mit Union und FDP? Schon angesichts der großen internatio­nalen Instabilit­äten wäre das die bessere Alternativ­e. Zumal auch eine Neuwahl womöglich nur „Jamaika“zuließe.

In diesem Fall allerdings müssten die Grünen schleunigs­t klären, was in Leipzig ignoriert oder weggejubel­t wurde. Zum Beispiel bei der Migrations­frage. Sicher hat Winfried Kretschman­n drastische Worte über eine mutmaßlich­e Massenverg­ewaltigung durch Flüchtling­e in Freiburg gebraucht. Sich aber mit dem Problem aggressive­r Asylbewerb­er erst gar nicht auseinande­rzusetzen, kann auch keine Lösung sein. In Regierungs­verantwort­ung schon gar nicht. Die grüne Selbstbege­isterung bekäme dann wohl sehr schnell Risse.

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