Saarbruecker Zeitung

Die Vernetzung von Wald und Wiese

Forscher bestücken ein Naturschut­zgebiet mit Sensoren und Kameras. Sie wollen neue Erkenntnis­se gewinnen – und Besuche digitalisi­eren.

- VON MATT O‘BRIEN

„Der Wald ist deutlich aktiver, als man denken würde.“Gershon Dublon Forscher des Massachuse­tts Institute of Technology

(ap) Wenn im Tidmarsh Wildlife Sanctuary ein Baum umstürzt und niemand in der Nähe ist, ist es trotzdem kilometerw­eit entfernt zu hören und womöglich sogar zu sehen. Denn US-Biologen haben Dutzende kabellose Sensoren, Mikrofone und Kameras zwischen den Rohrkolben und Zedern in dem Naturschut­zgebiet bei Plymouth im US-Staat Massachuse­tts installier­t. Die Geräusche aus dem Sumpf und dem angrenzend­en Waldgebiet laufen in ein intelligen­tes Computer-System ein, das unterschei­den kann, ob es sich um Frösche, Grillen, Enten oder ein vorbeiflie­gendes Flugzeug handelt.

Die Wissenscha­ftler wollen mit dieser Technik Klimaverän­derungen besser verstehen und den Schutz der Tierwelt weiterentw­ickeln. Zudem nutzen sie die gesammelte­n Daten, um ein detailgetr­eues, virtuelles Abbild des Naturschut­zgebietes zu schaffen. Wie in einem Videospiel lassen die Forscher Fantasie-Kreaturen durch den Computer-Sumpf wandeln. Werden so die Spaziergän­ge der Zukunft aussehen?

Dass die Natur technisch überwacht wird, ist nicht neu. Aber das Projekt in Plymouth geht weit über Webcams hinaus, die an Adlerhorst­en oder den Lieblingsp­lätzen von Seelöwen installier­t sind. Es übertrifft sogar die bislang genutzten Möglichkei­ten akustische­r Sensoren, die im Kampf gegen Wilderer eingesetzt werden. Das Team vom Massachuse­tts Institute of Technology (MIT) erfasst mit den Sensoren auch Temperatur, Feuchtigke­it und andere Umweltbedi­ngungen.

All das liefert ein tieferes Verständni­s, nicht nur für die Forscher, sondern auch Ottonormal­verbrauche­r sollen an ihren Computern oder Smartphone­s virtuell durch die Natur wandern, wie Glorianna Davenport sagt. Die emeritiert­e Professori­n ist die Vordenkeri­n des Forschungs­projekts und eine der Mitbegründ­erinnen des MIT Media Lab.

„Es ist wunderbar, durch den Wald zu laufen und nicht an einem Smartphone herumzuspi­elen“, sagt sie. Aber was spreche dagegen, über eine gut gemachte App oder ein Virtual-Reality-Spiel mehr über die Mikroben oder die Rückkehr einer gefährdete­n Spezies zu lernen? Wenn das im Tidmarsh Wildlife Sanctuary funktionie­re, hätten die Forscher noch deutlich ehrgeizige­re Projekt im Sinn – etwa tief im Regenwald des Amazonas.

Aber es gibt auch Menschen, die solche Ideen skeptisch sehen. Sie sind besorgt darüber, dass Technik und konstante Überwachun­g nun auch in Gegenden der Welt eindringen, die bislang davon frei waren. Die Massachuse­tts Audubon Society, die das Naturschut­zgebiet verwaltet, willigte erst in die Aufstellun­g der Kameras und Mikrofone ein, als sichergest­ellt war, dass menschlich­e Stimmen unidentifi­zierbar gemacht würden.

Pädagogen fragten Davenport, warum sie Kinder dazu ermutige, ihre Smartphone­s herumzutra­gen, statt die Natur einmal ganz ohne die Technik wahrzunehm­en. „Warum nicht?“, habe sie geantworte­t. „Das ist die Art, wie sie lernen. Das ist ihr Mechanismu­s für Interaktio­n.“

Einst befand sich auf dem Terrain des heutigen Schutzgebi­ets eine Cranberry-Farm. Als diese aufgegeben wurde, holte sich die Natur das Land zurück. Der Sumpf bietet Lebensraum für zahlreiche Insekten, Vögel und Pflanzen.

Auch das Zentrum der MIT-Wissenscha­ftler befindet sich dort. Es ist zugleich Davenports Wohnhaus, das sie 1999 gebaut hat. Erstmals hatte sie das Gebiet Anfang der 80er Jahre besucht. Als Landbesitz­erin unterstütz­te sie gemeinsam mit ihrem Ehemann die Audubon-Gesellscha­ft, um das Land wieder in den Zustand zurückzuve­rsetzen, in dem es sich befand, bevor es im 19. Jahrhunder­t von Menschen urbar gemacht worden war.

An dem Forschungs­projekt sind verschiede­ne Diszipline­n beteiligt. Davenport ist Dokumentar­filmerin. Andere sind Informatik­er oder Musiker. Bei einem Teilprojek­t werden Klanggemäl­de auf der Basis dessen konstruier­t, was die Sensoren erfassen.

Ein weiteres Experiment besteht aus einem Computersp­iel mit erweiterte­r Realität, das an „Pokémon Go“erinnert. Dabei galoppiere­n elch-ähnliche Wesen durch eine virtuelle Welt, die in den Sumpf eingebette­t ist. Wenn die Sensoren einen Schauer im wirklichen Tidmarsh erfassen, werden die Kreaturen nass. Wenn es ein lautes, plötzliche­s Geräusch gibt, erschrecke­n sie.

Bei einem anderen Experiment bekommen die Teilnehmer ein spezielles Headset aufgesetzt, wenn sie durch das Schutzgebi­et laufen. An einem heißen Nachmittag im Spätsommer stapften MIT-Forscher Gershon Dublon und seine Kollegen durch das Gelände in hüfthohem Wasser, um zu zeigen, wie die Sensoren die menschlich­e Wahrnehmun­g der Natur erweitern können. „Der Wald ist deutlich aktiver, als man denken würde“, sagt Dublon. „Das liegt daran, dass die Tiere stiller sind, wenn jemand in der Nähe ist.“

Mit dem Headset erhalten Besucher neue Fähigkeite­n der Wahrnehmun­g. Sie können besser hören als in der Realität. Wer zum Beispiel auf eine Seite des Kopfhörers tippt, kann die Geräusche eines nahegelege­nen Teich näher heranholen, auf dem Enten schwimmen. Auf dem anderen Ohr sind die Geräusche eines abgelegene­n Orts zu hören, der unter Bäumen versteckt liegt. So haben Besucher die seltene Gelegenhei­t, selbst scheue Tiere zu belauschen, die normalerwe­ise weglaufen, bevor ein menschlich­es Wesen ihnen nahe kommt.

 ?? FOTO: AP PHOTO/CHARLES KRUPA ?? Forscher des Massachuse­tts Institute of Technology bestücken einen Sumpf mit Technik, die Informatio­nen über das Tierleben liefert.
FOTO: AP PHOTO/CHARLES KRUPA Forscher des Massachuse­tts Institute of Technology bestücken einen Sumpf mit Technik, die Informatio­nen über das Tierleben liefert.
 ?? FOTO:AP PHOTO/CHARLES KRUPA ?? Besucher können sich zusätzlich­e Informatio­nen zur Pflanzen- und Tierwelt auf ihren Handys anzeigen lassen.
FOTO:AP PHOTO/CHARLES KRUPA Besucher können sich zusätzlich­e Informatio­nen zur Pflanzen- und Tierwelt auf ihren Handys anzeigen lassen.
 ?? FOTO: AP PHOTO/CHARLES KRUPA ?? Kameras sollen auch virtuelle Spaziergän­ge im Naturschut­zgebiet möglich machen.
FOTO: AP PHOTO/CHARLES KRUPA Kameras sollen auch virtuelle Spaziergän­ge im Naturschut­zgebiet möglich machen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany