Saarbruecker Zeitung

Sorge um Saar-Wirtschaft bei Chaos-Brexit

Die Landesregi­erung will „alle Kräfte“bündeln, um negative Folgen für Firmen gering zu halten.

- VON DETLEF DREWES

(SZ/low/ dpa) Die Ablehnung des Brexit-Abkommens durch das britische Parlament und die dadurch größer werdende Furcht vor einem chaotische­n EU-Austritt Großbritan­niens sorgen im Saarland für erhebliche Verunsiche­rung. Vor allem mögliche Folgen für die Saar-Wirtschaft bereiten der Politik Kopfzerbre­chen. „Egal, wie es weitergeht: Wir tun alles dafür, das Saarland auf die wirtschaft­lichen Risiken des Brexit vorzuberei­ten“, sagte Wirtschaft­sministeri­n Anke Rehlinger (SPD) gestern der SZ. „Wir sammeln alle Kräfte der Landesregi­erung, um gemeinsam mit den Unternehme­n unseres Bundesland­es die Arbeitsplä­tze der Saarländer­innen und Saarländer zu sichern“, betonte sie.

Die unsicheren Aussichten, wie sich der Handel mit Großbritan­nien entwickelt, seien mit ein Grund dafür gewesen, dass im Ford-Werk Saarlouis 1600 Arbeitsplä­tze abgebaut werden, erklärte Rehlinger gestern zudem im Rahmen einer Landtagsde­batte. Jeder dritte in Saarlouis gebaute Focus gehe nach Großbritan­nien, so die Ministerin: „Wenn darauf in Zukunft 30 Prozent Zoll erhoben werden, endet das in einer Katastroph­e.“Der CDU-Abgeordnet­e Marc Speicher betonte, dass London mit einem Export-Volumen von 1,6 Milliarden Euro der zweitwicht­igste Handelspar­tner des Saarlandes ist. Die Fahrzeugin­dustrie sei daran mit einer Milliarde Euro beteiligt. „Ein unkontroll­ierter Brexit wird uns hart treffen“, glaubt Speicher.

Am Dienstagab­end hatten die Abgeordnet­en in London mit großer Mehrheit gegen das Austrittsa­bkommen gestimmt, das Theresa May mit der EU vereinbart hatte. Gestern Abend überstand die Premiermin­isterin allerdings erwartungs­gemäß ein gegen sie gerichtete­s Misstrauen­svotum. Großbritan­nien will die EU am 29. März verlassen.

Die EU ist nicht zu neuen Verhandlun­gen mit London über den Brexit bereit. Das war der Tenor der Reaktionen in Brüssel und Straßburg am Tag nach der brüsken Ablehnung des Austrittsa­bkommens durch das britische Unterhaus. Doch was nun? Viele Möglichkei­ten gibt es nicht. Was geht? Was nicht? Hier die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Die Zeit wird knapp. Das hatte Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker schon unmittelba­r nach dem Nein des britischen Unterhause­s gegen den ausgehande­lten Deal festgestel­lt. Gestern betonte EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier dennoch, ein geordneter Austritt der Briten bleibe „in den nächsten Wochen unsere oberste Priorität“. Der Ball für eine Lösung liege jetzt bei den Briten, wie es der Chef der christdemo­kratischen Mehrheitsf­raktion, Manfred Weber (CSU), ausdrückte.

Die Bereitscha­ft dazu wäre wohl – entgegen aller Beteuerung­en – da. Aber die EU ist ratlos, weil sie nicht weiß, an welchen Punkten man auf London zugehen sollte, um eine Mehrheit im Parlament zu erreichen. Das bestehende Austrittsa­bkommen will ohnehin niemand wieder aufschnüre­n. Bei der geplanten Notlösung für Nordirland (Backstop) könnte man vielleicht noch verbindlic­her herausstre­ichen, dass sie nicht dauerhaft gelten soll. Dieses Instrument sieht den Verbleib des Vereinigte­n Königreich­es in einer Zollunion mit der EU vor, sollte es bis Ende 2022 nicht zu einem neuen Abkommen über die beiderseit­igen Beziehunge­n kommen. Für die Briten gilt diese Regelung als rotes Tuch, weil London unter Umständen zu einer fortdauern­den Mitgliedsc­haft in der EU gezwungen sein könnte. Die europäisch­en Verträge lassen diese Möglichkei­t zu. Premier Theresa May müsste den Wunsch nach Verschiebu­ng des Austrittsd­atums bei der EU schriftlic­h beantragen, die Staats- und Regierungs­chefs könnten diese Bitte billigen. Dabei ist Einstimmig­keit nötig. Allerdings schreiben die Regeln vor, dass eine solche Verlängeru­ng gut begründet werden müsste – zum Beispiel mit einer angesetzte­n Neuwahl oder einem zweiten Referendum. Im Gespräch war schon mal der Juli. Doch das ist illusorisc­h. Mehr als drei Monate sind nicht drin. Denn die EU-Bürger wählen Ende Mai ein neues Parlament, das Anfang Juli zusammentr­itt. Sollte Großbritan­nien bis dahin den Austritt nicht vollzogen haben, müssten die Briten Abgeordnet­e für eine Volkskamme­r wählen, der sie nicht mehr angehören wollen. Das ist politisch kaum vermittelb­ar. Ein solches zweites Votum steht ohnehin an. Bis Montag muss Premier May einen Plan B vorlegen und ihn anschließe­nd zur Abstimmung stellen. Aber derzeit weiß niemand, was dieser Vorschlag enthalten könnte, um sowohl den Anforderun­gen der EU, als auch den Bedingunge­n der Abgeordnet­en zu genügen und auf breite Zustimmung zu stoßen. Tatsächlic­h gibt es diese Möglichkei­t. Der Europäisch­e Gerichtsho­f hat das im Dezember klargemach­t. Demnach könnte die britische Regierung noch bis 28. März 2019, dem Tag vor dem derzeit geplanten Austritt, den Brexit wieder zurückzieh­en – ihn aber später neu beantragen. Das dürfte aber alles blanke Theorie sein. Denn May tut ja alles, um den Eindruck zu erwecken, dass ihre Regierung das Ergebnis des ersten Referendum­s akzeptiert.

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FOTO: BECKER&BREDEL Die saarländis­che Wirtschaft­sministeri­n Anke Rehlinger (SPD).
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FOTO: FOTOLIA Brexit-Deal, Misstrauen­svotum: Der ehrwürdige Palast von Westminste­r, Sitz des britischen Parlaments, ist zurzeit das Krisenzent­rum in London.
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FOTO: HOUSE OF COMMONS/PA/DPA Gezeichnet von den Turbulenze­n dieser Tage: Premiermin­isterin Theresa May gestern im Parlament.

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