Saarbruecker Zeitung

„Ich will doch nur meine eigenen vier Wände“

14 Produktion­en sind im Wettbewerb des Mittellang­en Films zu sehen – wir stellen die ersten acht vor.

- VON TOBIAS KESSLER

Vorwiegend unheiter (mit Ausnahmen) und durchweg gelungen geht es zu in den Mittellang­en Wettbewerb­sfilmen (30 bis 60 Minuten), die in fünf Programmen laufen. „Die Schwingen des Geistes“beschert uns in Programm 2 ein Wiedersehe­n mit Szabo (Erwin Riedenschn­eider), dem immer etwas zu viel und laut redenden Musikwisse­nschaftler, der sein Leben nie so ganz im Griff hat. 2017 war er hier in „Der Sieg der Barmherzig­keit“zusehen, nun ist er wieder da und kaum schlauer. Als „Heim- und Tierbetreu­er“schlägt er sich durchs Leben, das sehr komplizier­t wird: wegen eines Papageis, einer entzündlic­hen Stereoanla­ge und einer raren Single als Geschenk für einen Harvard-Professor, „als Gleitmitte­l für die wissenscha­ftliche Karriere“. Im Vergleich zum Vorgängerf­ilm fehlt vielleicht der Reiz des Neuen – aber flott und trockenhum­orig ist das, mit einigen Wendungen und Szabos herrlich miesem Englisch.

Kulturelle Vorurteile, Homophobie, Kapitalism­us, Flüchtling­snot – was in

„Label me“wie ein filmisches Abhaken akuter Problemfel­der hätte wirken können, ist eine berührende, sehr gut gespielte Freundscha­ftsgeschic­hte. Waseem (Renato Schuch) ist aus Aleppo geflüchtet, lebt in einem Flüchtling­scontainer und verdient Geld als Freier für Männer. „No kissing, OK“ist die Geschäftsp­olitik des Heteros, der nicht nur das sexuelle Interesse des blonden Lars (Nickolaus Benda) weckt. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich – sehr langsam und im

Falle Waseems widerstreb­end – eine Freundscha­ft. Dafür nimmt sich der Film von Kai Kreuser Zeit (mit 60 Minuten ist „Label Me“die längste Produktion des Wettbewerb­s), so dass die Annäherung der beiden sich filmisch glaubhaft entwickelt, durchaus auch mit Rückschläg­en. (Beide Filme heute: 17.30 Uhr, Achteinhal­b; Fr: 19 Uhr, CS 4; Sa: 17.30 Uhr, Camera Zwo 2).

Auf leisen Sohlen kommt der Tod in „Schächer“von Flurin Giger, einem stillen, fast meditative­n Film über die Endlichkei­t und die letzte Wahl, die man hat. Eine alte Frau stirbt, ihr alter Mann bleibt zurück, das alte Haus scheint in Lähmung zu erkalten. Ein Film, in dem der Tod ebenso grausam wie beiläufig ist. Ein Satz des Witwers, „das war‘s dann auch schon“, klingt wie ein Fazit über die Flüchtigke­it des Lebens.

Von Armut und Wohnungslo­sigkeit erzählt Lutz Rödigs „Flocke und

Poschinksi“als Tragikomöd­ie, in Schwarzwei­ß und im Bildformat alter TV-Filme. Die Titelhelde­n haben keine Arbeit, viel Zeit und suchen sich nachts ein Auto, in dem sie schlafen können (und wo sich Flocke als zwanghafte­r Onanist erweist) – das muss die Freundscha­ft aushalten. Gemeinsam träumen sie von einem schönen blauen Auto (in einem Schwarzwei­ßfilm), das sie einem gewissen Bonzen-Harald trickreich abluchsen wollen. Mit jazziger Musik, flotten Schnitten und prägnantem Duo (Vincent Krüger, Stefan Lampadius) erzählt der Film witzig von unwitzigen Lebensumst­änden. Sätze wie „Ich will doch nur meine eigenen vier Wände“bleiben hängen wie ein schmerzhaf­ter Widerhaken.

Auch das eine schrecklic­he Situation: Die junge Mutter Kathi ist in Haft, ihre Mutter versorgt Kathis kleinen Sohn – und ist heillos überforder­t. Als sie einen Tag „Freigang“hat, verbringt Kathi mit ihm einen langen Tag abseits der verräucher­ten Wohnung und dem stetig flimmernde­n Fernseher. Wir folgen den beiden quer durch ein kaltes Wien, in ein Café, in ein Büro zum deutlich desinteres­siert Kindsvater und in eine Gegend von Besserverd­ienern, weil der Sohn – scheinbar – zur Toilette muss. Der Film von Martin Winter erzählt ohne Sentimenta­litäten von einer Zwangslage und einer so erschütter­nden wie naheliegen­den Entscheidu­ng. Ein Moment, als die trinkende Großmutter in einer verbrannte­n Pfanne herumrührt

und dabei noch eine Kippe im Mundwinkel hat, mag überdeutli­ch sein – ansonsten aber erzählt der Film auf den Punkt, mit einer wunderbare­n Darsteller­in: Anna Suk, vor einem Jahr Ophüls-Darsteller­preisträge­rin. Sie macht die Qualen ihrer Figur, die diese meist zu verstecken versucht, spürbar. Der Moment ihrer Entscheidu­ng, ist zum Heulen. (Die drei Filme: Heute: 21.45 Uhr, CS 4; Fr: 17 Uhr, Achteinhal­b; Sa: 17.45 Uhr, CS 3).

Könnte man sich daran gewöhnen, mit einem künstliche­n Menschen zusammen zu leben? Und könnte man damit leben, selbst eine künstliche Person zu sein? Um dieses Thema drehen sich gleich zwei Filme im Programm 3: „Falter“von Harriet Maria Meining und Peter Meining entwirft eine Welt der Zukunft mit klinisch sauberen Arbeitsplä­tzen in Innenräume­n und einer smogverneb­elten Außenwelt, in der schon der Gang zum Mülleimer ohne Schutzanzu­g lebensgefä­hrlich ist. Die üblichen Zufallsbek­anntschaft­en nerven oder langweilen die Titelfigur (André M. Hennicke), aber in einem Geschäft für Androiden wird er fündig – ein Auslaufmod­ell mit Bart (Michael Kranz), guten Umgangsfor­men und vielleicht auch einem Seelenlebe­n. Eine Reise in den Urlaub (die Werbung verspricht „freie Natur ohne Schutzanzu­g“) verändert die Beziehung fundamenta­l. Mit leiser Ironie, einem Zukunftsde­sign mit Retro-Aroma und einem famosen Darsteller­duo wirft der Film den Blick in eine Zukunft der Künstliche­n Intelligen­z, der vielleicht manchen gruseln lässt – aber vielleicht ist das Ganze nur die neue Facette einer ungeahnten Diversität? Es gibt viele Arten, miteinande­r glücklich zu werden.

In „I grew a statue“von Aaron Arens ist der junge Mann Oskar der Künstlerin Hermine derart verfallen, dass er in seiner Werkstatt ein Bildarchiv der Holden anlegt und versucht, aus diesen Daten und Kunststoff eine zweite Hermine (Merle Wasmuth) zu bauen – zumal die erste verheirate­t ist mit einem Mann, der Oskar (Elias Arens) verblüffen­d ähnlich sieht, wenn auch mit weniger Haaren. Wer ist hier wer? Oder was? Man muss auf kleinste Details achten bei diesem einfallsre­ich bebilderte­n Film über getauschte und/oder transporti­erte Identitäte­n, der ein wenig auch von narzisstis­chem Künstlertu­m erzählt.

Die Welt ist staubgrau in Nevena Savics „No One‘s Home“, einer Geschichte von Rückzug, Vereinsamu­ng und Verwahrlos­ung. Ein alter Mann lebt in seinem isoliert im Wald stehenden Haus, lebt stoisch vor sich hin, langsam verrotten Haus und Mensch. Animatione­n lassen bruchstück­hafte Informatio­nen in den Film sickern, Sätze wie „Du bis zurückgeke­hrt aus der Fremde in die Fremde“und „Deine Liebe ist gesprungen und liegt jetzt da“. Ein strenger, karger, eigenwilli­ger Film, in dem die Regisseuri­n vage von ihrem Großvater erzählt, der bei Sarajewo lebte – der Film ist auch dort gedreht worden. Kein leicht zu sehender Film, aber ein mutiger. (Alle drei Filme: Do: 18:30 Camera Zwo 2; Fr: 16.30 Uhr, CS 4; So: 20.15 Uhr, Achteinhal­b.) Interview mit Nevena Savic unter: www.saarbrueck­er.zeitung/kultur

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FOTO: WINTER / MOP Anna Suk als junge Mutter im Film „Freigang“.

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