Saarbruecker Zeitung

Politik muss Vorreiter sein für neue Streitkult­ur im Netz

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Die Kritik ist seit dem Start des EU-Projektes gegen Hass im Netz bis heute nicht verstummt: Ist es wirklich die Aufgabe der sozialen Netzwerke, Beiträge zu zensieren? Und damit an die Stelle von Gerichten zu treten, die rechtsgült­ig beurteilen, ob ein Text, Bild oder Video rassistisc­h und strafbare Hetze ist? Die Praxis zeigt, dass diese Einwände am Alltag vorbeigehe­n. Natürlich dürfen Facebook, Instagram oder Youtube die freie Meinungsäu­ßerung nicht einschränk­en. Aber sie haben in der Tat alles zu unternehme­n, um Verstöße gegen geltendes Recht unmöglich zu machen. Und damit sind die Gesetze der Länder gemeint, nicht firmeninte­rne Leitlinien oder auf die Benutzer zugeschnit­tene Verhaltens­regeln.

Die jüngsten Zahlen belegen, dass es durchaus möglich ist, die gewaltigen Berge an täglichen Posts zu durchforst­en und illegale Hetze und Hass-Tiraden wieder zu löschen. Diesen entgegenzu­treten, hat nichts mit einem Eingriff in das Recht auf freie Meinung zu tun – umgekehrt ist es richtig: Nur wenn strafbare Inhalte endlich verbannt werden, kann jeder offen sagen, was er beitragen möchte.

Doch zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass diese Kontrollen der Internet-Konzerne nicht ausreichen, wenn es nicht auch Nutzer gibt, die couragiert und offen Rassismus und Extremismu­s widerstehe­n. Das Datennetz ist kein rechtsfrei­er Raum, in dem man anonym und folgenlos alle Ausfälligk­eiten von sich geben darf. Aber die Beschimpfu­ngen, die sich immer mehr Nutzer glauben leisten zu können, sind auch eine Konsequenz der politische­n Diskussion­skultur, die keine Tabus mehr zu kennen scheint. Wenn Regierungs­mitglieder über Twitter und Facebook Gegner attackiere­n und verunglimp­fen, dann zieht dieses Verhalten Kreise. Und wenn Politiker – gleich welcher Couleur – meinen, sie würden nur dann Gehör bei den Wählern finden, wenn sie sich besonders drastisch ausdrücken, spiegelt das Netz dies wider. Das öffentlich­e Erschrecke­n über so manche Exzesse im Internet ist genau genommen das Ergebnis einer Konfrontat­ion mit der Wirklichke­it im politische­n Streit.

Die Kooperatio­n der EU mit den großen sozialen Netzwerken, der sich immer weitere Unternehme­n anschließe­n, war ein Erfolg. Zwar wird die Auseinande­rsetzung im virtuellen Raum nicht die Realität verändern, weil dies wohl nur umgekehrt funktionie­rt. Aber eine Gesellscha­ft muss klarmachen, was sie an Stil und Umgang miteinande­r haben will. Hetze und Hass haben da nichts verloren. Wenn diese Entschloss­enheit auch im Internet umgesetzt wird, haben die Schreier und Proleten dort keine Basis mehr, weil die – bislang noch zu oft schweigend­e – Mehrheit sich endlich auch zu Wort meldet und klarmacht: Wir nehmen solche verbalen Entgleisun­gen nicht hin.

Dazu braucht es Mut, Zivilcoura­ge und vor allem Entschloss­enheit, wieder so miteinande­r streiten zu lernen, dass über Konzepte, Lösungen und Wege dahin debattiert wird, ohne den anderen zu verletzen und zu beleidigen. Dann können die sozialen Netzwerke auch das Ihre tun, um diesen Prozess zu unterstütz­en.

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