Saarbruecker Zeitung

„Vielleicht schafft es Zeit für ein Wunder“

Christian Bär schildert den Fortgang seiner ALS-Erkrankung. Er bekommt ein neues Medikament und gibt die Hoffnung nicht auf.

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VON CHRISTIAN BÄR

Aktuell bekomme ich wieder Infusionen. Edaravone ist ein Medikament aus Japan, das letztes Jahr auch in den USA zur Behandlung von ALS-Patienten zugelassen wurde. In der EU und somit auch in Deutschlan­d ist das Mittel noch nicht zugelassen. Es besteht allerdings die Möglichkei­t, Edaravone über eine internatio­nale Apotheke zu bestellen. Die Kostenüber­nahme kann bei der Krankenkas­se beantragt werden.

Edaravone ist nach Riluzol weltweit das zweite Medikament zur Behandlung der amyotrophe­n Lateralskl­erose (ALS). Riluzol kann das Leben im Schnitt um drei Monate verlängern. Drei Monate mehr, na Gott sei Dank, dann ist ja alles entspannt. Mit Edaravone kommt nun ein weiteres Medikament dazu, das den Verlauf verlangsam­en soll. Ich will nicht mit Studiendet­ails nerven, aber ob es das Überleben verlängert, ist noch gar nicht sicher. Die aktuelle Studienlag­e zeigt, dass Edaravone nur bei einer Untergrupp­e von ALS-Patienten wirkt, die bestimmte klinische Merkmale aufweisen. Somit wird es auch nur für diese Gruppe empfohlen. Ob es eventuell in der Langzeitbe­handlung auch bei anderen Gruppen wirkt, ist nicht getestet. Die Sinnhaftig­keit solcher Empfehlung­en darf meiner Meinung nach in Frage gestellt werden. Es handelt sich um einen weiteren kleinen Schritt in Richtung nennenswer­ter Therapie-Möglichkei­ten bei ALS. Allein der Placebo-Effekt, ausgelöst von der Hoffnung auf Verlangsam­ung, könnte wesentlich helfen.

Bei mir wurden die Kosten anstandslo­s übernommen, dafür bin ich meiner Krankenkas­se sehr dankbar. Aktuell laufen wieder Infusionen bei mir und ich vertrage sie gut. Ob sie wirken, ist nur schwer zu sagen, da ich keinen Vergleich habe, wie es ohne wäre. Wir sind hoffnungsv­oll, wenn es auch das eigentlich­e Problem nicht löst. Aber vielleicht verschafft es Zeit für ein Wunder, wir glauben fest daran. Wir haben uns entschloss­en, erbitterte­n Widerstand zu leisten, Aufgeben ist keine Option. Im Besonderen fühle ich mich meinem Sohn gegenüber verpflicht­et. Zu kämpfen, durchzuhal­ten, zu glauben. Dies bedeutet in aller Konsequenz künstliche Beatmung und Ernährung, im schlimmste­n Fall Locked-in-Syndrom.

„Completly locked-in“, so der Fachtermin­us, bedeutet vollständi­ge Lähmung bei wachem Bewusstsei­n. Und vollständi­g meint vollständi­g: Keine Bewegung der Augen, der Augenlider oder sonstige Kleinstbew­egungen der willkürlic­hen Muskulatur sind mehr möglich. Da ist nix mit Kratzen, wenn es mal juckt oder die gottverdam­mten Stechmücke­n davon abhalten, Bed and Breakfast zu spielen. Denn das Fühlen, Schmecken, Hören, die Wahrnehmun­g ist gegeben. Das Gehirn arbeitet wie bei einem Gesunden. Außer Muskeln fehlt nix. Du bist also da, am Leben, dabei, geliebt.

Okay, es wird schwer, Sachen angemessen auszudisku­tieren. Das bringt mich ja heute schon bisweilen

Christian Bär auf die Palme. Das gesprochen­e Wort war mein schärfstes Schwert, und nun bin ich dazu verdammt, Situatione­n kommentarl­os geschehen zu lassen, die einer verbalen Interventi­on würdig wären. Vielleicht empfindet mein Umfeld diesen Umstand auch ab und zu als angenehm. Aber ich empfinde es als beruhigend, dass mir nur die Muskeln fehlen, aber mein Geist hellwach ist. Ich fühle mich auch nicht in dem Maße krank, wie die Diagnose und mein Zustand aus äußerliche­r Sicht vermuten lassen.

Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Einem Neurowisse­nschaftler, Niels Birbaumer, ist es gelungen, mit Locked-in-Patienten zu kommunizie­ren. Mittels einer Haube ist es möglich, Hirnströme zu messen. Gefragt nach ihrer Lebensqual­ität, antwortete­n die Patienten überwiegen­d „sehr gut“. Der Knaller. Totunglück­lich sind diese Menschen nicht, weil sie in der Familie leben und gepflegt werden – und weil die Menschen in ihrer Umgebung positiv und freundlich zu ihnen sind.

Die beschriebe­ne Kommunikat­ion mit Haube ist natürlich rudimentär und beschränkt auf die Beantwortu­ng von Ja/Nein-Fragen. Der Perfektion­ist in mir fragt sich nun: Was, wenn die Fragen mistig sind? Eine Katastroph­e, ich rege mich dann sicherlich fürchterli­ch auf und kann nicht ausdiskuti­eren, wie man denn so unterirdis­che Fragen stellen kann und keine intelligen­ten.

Vielleicht macht es Sinn sich, solange es noch geht, Fragen zu überlegen, die einem wichtig erscheinen. Quasi das Reisegepäc­k klarmachen für die Reise in eine besondere Welt. Survival-Trip. Ausrüstung checken, Packlisten erstellen, vielleicht mal zwei Tage das Werkzeug testen, so lange man noch was einpacken kann.

Ich muss mal in mich gehen, was mir wichtig erscheint. Hast Du Schmerzen? Geht es Dir gut? Juckt es Dich irgendwo? Oder an Samstagen: Willst Du ein Herrengede­ck durch die Magensonde? Ich muss mir dazu mal ein paar Gedanken machen. Aber auch die Reiseplanu­ng sollte eventuell selbst gestaltet werden, zum Beispiel Hörenswürd­igkeiten. Morgens hätte ich gerne Deutschlan­dfunk. Am Wochenende, nachmittag­s, würde ich gerne SR3 hören. Dann ein paar gute Hörbücher, Politik, Autobiogra­fien, ein bisschen was zum laut Lachen.

Und vorab ein paar Wünsche formuliere­n: Abends erzählen wir „uns“, wie unser Tag war. Der Hund darf ins Bett. Wir kuscheln. Erzähl mir einen guten Witz pro Woche. Nur einen einzigen Witz, aber dafür einen Kracher. Spiel mir keine gute Laune vor, ich merke es eh direkt. Mach einmal im Monat Spießbrate­n. Ich weiß, Du hasst Spießbrate­n, weil dann zwei Tage lang „die Bude stinkt“, aber ich liebe den Geruch. Doch halt, Denkfehler. Aufgrund der künstliche­n Beatmung kommt keine Luft durch die Nase und somit ist das Riechen nicht mehr möglich. Mach den Braten trotzdem. Wir pürieren ihn, geben ihn durch die Sonde und schicken ein Pils hinterher. Vermutlich muss ich dann aufstoßen und schmecke lecker Braten mit Bier. www.madebyeyes.de

„Ich empfinde es als beruhigend, dass mir nur die Muskeln fehlen, aber mein Geist

hellwach ist.“

ALS-Patient

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FOTO: BÄR Christian Bär schreibt seine Texte mit einem Spezialcom­puter, den er allein mit seinen Augen steuert.

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