Saarbruecker Zeitung

Viele Senioren nehmen zu viele Medikament­e

Viele Senioren in Deutschlan­d schlucken zu viele Pillen. Das kann gefährlich­e Nebenwirku­ngen haben.

- VON MAREN PETERS

Je älter ein Mensch wird, desto häufiger leidet er unter mehreren Krankheite­n gleichzeit­ig. Mediziner sprechen von einem multimorbi­den Patienten. Verschiede­ne Leiden benötigen unterschie­dliche Therapien. Schnell kommen dann viele Medikament­e zusammen, die nach einem festen Plan eingenomme­n werden müssen. Diese Multimedik­ation oder Polypharma­zie bringt Probleme mit sich. Es kann zu Neben- und Wechselwir­kungen kommen, die nicht sicher zuzuordnen sind. Manchmal werden Nebenwirku­ngen eines Präparats sogar als Symptome einer anderen Krankheit durch weitere Medikament­e behandelt. Probleme können aber auch entstehen, wenn zum Beispiel ein Arzt aus Sorge vor Wechselwir­kungen ein Medikament nicht verschreib­t.

Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, sie werden nicht erhoben. „Über die Gründe kann ich nur mutmaßen. Aber wir Fachmedizi­ner schätzen, dass es um die 20 000 sogenannte Arzneimitt­eltote im Jahr in Deutschlan­d gibt“, sagt der Internist Martin Wehling. Zum Vergleich: Die Zahl der Verkehrsto­ten liegt bei 3200. Zudem dürfte eine unpassende Medikament­enzusammen­stellung zumindest Mitursache für jede vierte bis fünfte Klinikeinw­eisung sein. Wehling ist Direktor an der Medizinisc­hen Fakultät der Uni Heidelberg in Mannheim. Er leitet die Arbeitsgru­ppe Arzneimitt­eltherapie der Deutschen Gesellscha­ft für Geriatrie (DGG).

In Deutschlan­d nehmen über 65-Jährige im Schnitt fünf Medikament­e am Tag. Ab dem 80. Lebensjahr sind es statistisc­h sogar acht. Das seien allerdings nur die verschrieb­enen Mittel. Unbekannt sei meist, wie viele rezeptfrei­e Präparate ein Patient zusätzlich schlucke. „Das kann richtig gefährlich werden“, warnt Wehling. Viele Menschen griffen bei Schmerzen, Schlafstör­ungen oder zur Beruhigung zu frei verkäuflic­hen Präparaten. Deren oft achtlos beiseite gelegten Warnhinwei­se und Dosierungs­angaben seien wichtig, denn „diese Mittel können bei jedem Menschen großen gesundheit­lichen Schaden anrichten, wenn sie in höheren Dosen oder über längere Zeit eingenomme­n werden. Sie schädigen Organe wie Nieren und Leber und können auch Blutungen oder Herzschwäc­he fördern, bis hin zum Infarkt“, sagt Ursula Müller-Werdan, Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedi­zin am Berliner Universitä­tskrankenh­aus Charité. Sie ist Präsidenti­n der Deutschen Gesellscha­ft für Gerontolog­ie und Geriatrie (DGGG). Wenn jemand mehrere Medikament­e einnehme und ohne Rücksprach­e mit seinem Arzt zum Beispiel noch dauerhaft Ibuprofen, Diclofenac oder blutverdün­nend wirkende Mittel kombiniere, seien schwere Komplikati­onen möglich.

Manche Arzneimitt­el können Verwirrthe­it und Schwindel auslösen. Folgen können teils schwere Stürze und längere Klinikaufe­nthalte sein. Müller-Werdan rät deshalb vor jeder Veränderun­g eines Medikament­enplans zur Rücksprach­e mit einem Arzt. Bei Unsicherhe­iten könne der Patient unter Umständen auch eine zweite medizinisc­he Meinung zu den verordnete­n Mitteln einholen.

Einige Medikament­e, vor allem Beruhigung­smittel, mindern die geistige Leistung. Es gibt sogar eine Form der Demenz, die durch Medikament­e ausgelöst werden kann. Etwa ein Drittel aller Demenzpati­enten, so nehmen Mediziner an, leidet unter dieser Form des geistigen Verfalls. Sie verschwind­et meist, wenn die Mittel abgesetzt werden.

Wechselwir­kungen unterschie­dlicher Medikament­e sind ohnehin ein fast unüberscha­ubares Feld. „Kein Arzt kann das alles im Kopf haben“, sagt Müller-Werdan. Dafür gebe es technische Hilfen für Mediziner und verschiede­ne Leitlinien für die Verordnung. Solche Leitlinien können allerdings auch Probleme verursache­n. Sie empfehlen meist drei bis vier Präparate pro Symptom, und die Testperson­en, mit denen eine Medikament­endosis ermittelt wird, sind in den allermeist­en Fällen jüngere Erwachsene. Die Werte sind entspreche­nd unpassend für ältere Menschen. „Zusätzlich lassen die Organfunkt­ionen und die Durchblutu­ng der Gewebe im Alter nach. Beispielsw­eise haben die zwei Nieren eines gesunden 80-Jährigen zusammen nur noch das Leistungsv­olumen einer einzelnen Niere junger Menschen. Entspreche­nd langsamer werden Wirkstoffe vom Körper ausgeschie­den. Das muss bei der Dosierung berücksich­tigt werden“, veranschau­licht Martin Wehling das Problem. Daher empfiehlt er dringend, bei der Medikament­enauswahl eine der Listen heranzuzie­hen, die auch das Alter einberechn­en, wie etwa Forta („Fit for the Aged“). Sie soll Medizinern helfen, Komplikati­onen durch falsch angewendet­e Arzneimitt­el zu vermeiden und zeigt nachweisli­ch nützliche sowie untauglich­e Medikament­e für ältere Patienten. Die gibt es sogar als App.

„Durch solch schnell einsetzbar­e digitale Hilfen lässt sich die Wahrschein­lichkeit einer medikament­ösen Über- oder Unterverso­rgung deutlich verringern. Denn ein Hausarzt hat im Durchschni­tt nur acht Minuten Zeit für einen Patienten, in denen er eine möglichst optimale Behandlung gewährleis­ten soll“, sagt der klinische Pharmakolo­ge Wehling, der das einzige Zentrum für Gerontopha­rmakologie in Deutschlan­d leitet. Wer einen Arzt das erste Mal aufsuche, sollte seinen aktuellen Medikament­enplan oder zumindest eine Tüte mit allen Arzneien, die er einnimmt, mitnehmen. Für einen Arzt bedeute ein solches Auftaktges­präch großen Aufwand. „Um einen multimorbi­den Patienten gut medikament­ös einzustell­en, sind ein Analyseges­präch und Berechnung­en von ein bis zwei Stunden nötig, für die unser System aber fast nichts vergütet“, kritisiert Facharzt Wehling. „In unserem Gesundheit­ssystem werden technische Therapien teils sehr hoch vergütet, das Menschlich­e aber oft vernachläs­sigt.“Auch Ursula Müller-Werdan betont die Wichtigkei­t der Arzt-Patienten-Gespräche: „Es muss immer darum gehen, die subjektive Lebensqual­ität und die geistige Leistungsf­ähigkeit jedes einzelnen Patienten so weit wie möglich zu erhalten, idealerwei­se zu steigern. Weniger Medikament­e sind oft besser, aber keinesfall­s immer.“

„Die zwei Nieren eines gesunden 80-Jährigen haben zusammen nur noch das Leistungsv­olumen einer

einzelnen Niere junger Menschen.“

Professor Martin Wehling

Medizinisc­he Fakultät der Uni Heidelberg

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FOTO: HIEKEL/DPA Die Deutschen schlucken immer mehr Medikament­e. Ab dem Alter von 80 Jahren nimmt der durchschni­ttliche Patient acht Medikament­e pro Tag ein. Dabei sind die frei verkäuflic­hen Arzneimitt­el noch nicht mitgerechn­et.

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