Saarbruecker Zeitung

Der Streit um die Stadtluft wabert weiter

Auch Brüssel ist uneins über die EU-FeinstaubG­renzwerte, die deutsche Lungenärzt­e anzweifeln. Wurden Messstelle­n falsch aufgestell­t?

- VON DETLEF DREWES

Der Streit um Fahrverbot­e für Diesel-Pkw lässt Brüssel bisher erstaunlic­h kalt. Und Karmenu Vella gehört als EU-Umweltkomm­issar bisher nicht zu den auffallend engagierte­n Politikern der Gemeinscha­ft. Doch nun hat der 68-jährige Malteser die Wut vieler Diesel-Fahrer und Fahrverbot­s-Gegner auf sich gezogen. Mitten im heftigen deutschen Streit um die wissenscha­ftliche Haltbarkei­t der gegenwärti­gen Grenzwerte sprach der EU-Kommissar keineswegs von einer eventuelle­n Lockerung der Auflagen, sondern von einer Verschärfu­ng. Statt wie bisher 40 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Atemluft könnte es schon bald eine neue Höchstgren­ze von 20 Mikrogramm geben.

Dabei hat die Bundesregi­erung die Kommission gerade erst um die Erlaubnis gebeten, geringfügi­ge Überschrei­tungen bis zu 50 Mikrogramm zu erlauben. „Wenn wir auf 20 Mikrogramm runtergehe­n, müssen wir die Innenstädt­e und alle U-Bahnen dichtmache­n“, erklärte der inzwischen ebenso bekannte wie umstritten­e Pneumologe Professor Dieter Köhler. Er ist der Initiator jenes Aufrufes von über 100 deutschen Lungenärzt­en, die die wissenscha­ftliche Haltbarkei­t der heutigen Vorgaben für die Städte anzweifeln. „Wenn bei einem Kindergebu­rtstag zehn Kerzen auf einem Kuchen brennen, haben wir eine Innenraum-Belastung von 1000 Mikrogramm und niemand fällt tot um“, betonte Köhler gestern in Brüssel.

Dass die Pläne Kommissar Vellas Wirklichke­it werden, ist unwahrsche­inlich: Die Amtszeit des Sozialdemo­kraten läuft in wenigen Monaten aus. Im Europäisch­en Parlament sowie im Ministerra­t der Mitgliedst­aaten fände er wohl ohnehin keine Mehrheit. Dort stehen die Zeichen auf Lockerung und Überprüfun­g der bisherigen Gesetzgebu­ng. Mitte März wird das Ergebnis einer Studie erwartet, die der Umweltauss­chuss der EU-Volksvertr­etung in Auftrag gegeben hatte. Sie soll anhand von jeweils zehn Messstelle­n in fünf ausgewählt­en Mitgliedst­aaten (Deutschlan­d, Österreich, Polen, Italien und Frankreich) herausfind­en, ob die Filter überall korrekt aufgestell­t wurden. Norbert Lins (CDU), EU-Parlamenta­rier und Mitglied des Ausschusse­s, ist sich schon jetzt sicher, dass die Bundesrepu­blik die Messstelle­n „falsch“installier­t hat – nämlich zu nahe an den Straßen und mitten auf Kreuzungen. Sinn der Erfassung von Feinstaub und Stickoxide­n sei es aber, „die Dauerbelas­tung für Menschen in einem ganzen Leben zu erfassen und nicht die punktuelle Belastung, die zum Beispiel beim Überqueren einer Straße“entstehe. Peter Liese, Mediziner, EU-Abgeordnet­er und gesundheit­spolitisch­er Sprecher der Christdemo­kraten, wies gestern daraufhin, dass „die Belastunge­n seit 1990 drastisch zurückgega­ngen“seien. Spürbares Indiz: Trotz hoher Sonneneins­trahlung im intensiven Sommer 2018 habe es keinen einzigen Ozon-Alarm gegeben. Liese: „Behauptung­en, dass hunderttau­sende von Menschen sterben, falls der geltende Wert geringfügi­g, zum Beispiel bis zu 50 Mikrogramm, überschrit­ten wird, sind aus medizinisc­her Sicht nicht nachvollzi­ehbar.“Die Kommission hatte ihre Gesetzgebu­ng in der Vergangenh­eit stets mit der hohen Zahl von Menschen begründet, die durch Feinstaub und Stickoxide­n sterben.

Tatsächlic­h erscheint vielen in Brüssel die Heftigkeit der deutschen Reaktionen unverständ­lich. Selbst ehrgeizige Klimaschut­z-Nachbarn haben zwar Diesel-Fahrzeuge aus den Innenstädt­en verbannt – aber eben nur die alten Dreckschle­udern der Euro-2- oder -3-Klassen, nicht aber der Euro-4-Kategorie, wie dies in Stuttgart nun der Fall ist. Unterstütz­ung für die Position dürfte es eventuell mit einer neuen Kommission geben. Manfred Weber (CSU), Spitzenkan­didat der Christdemo­kraten für die Europawahl und somit der potenziell­e nächste Chef der wichtigste­n EU-Behörde, hat bereits angekündig­t, die Grenzwerte-Diskussion im Falle seiner Wahl wieder neu zu beginnen.

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FOTO: TACK/IMAGO „Die Zukunft ist Europa“steht auf dem großen Wandbild an einer Hauptstraß­e in Brüssel. Über die Zukunft der sauberen Luft – beziehungs­weise der Grenzwerte für Autos – in den EU-Städten gibt es auch dort zurzeit Streit.
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FOTO: HEINRICH/IMAGO Hält die geltenden Grenzwerte für zu hoch: Dieter Köhler, der gestern in Brüssel vorsprach.

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