Saarbruecker Zeitung

Als Frauen noch unbekannte Planeten waren

Im Juli 1969 landete Apollo 11 auf dem Mond. Ulrich Woelks so luzider wie poetischer Roman schildert, wie vor 50 Jahren das Weltraumfi­eber auch die deutsche Provinz packt – und Menschen neue sexuelle Welten erkunden.

- Produktion dieser Seite: Esther Brenner Oliver Schwambach

macht Woelk, der sich seit 1995 ausschließ­lich aufs Schreiben konzentrie­rt, zum Schauplatz, sondern den Stadtrand von Köln. Dort, wo das Urbane schon in Einfamilie­nhausbesch­aulichkeit ausfranst. Welt ansonsten noch in alter Ordnung. Tobias’ Vater, ein Ingenieur, hätte Probleme, würde seine Frau auch arbeiten: Die Nachbarn könnten ja denken, er verdiene nicht genug.

In diesen scheinbar wohl gefügten Kosmos bricht die Mond-Eroberung wie ein Allez-Signal. Tobias kann’s kaum erwarten; das Modell einer Saturn-V-Rakete ist sein ganzer Stolz im Kinderzimm­er, in dem, als der Sommer beginnt, noch nichts anderes Platz hat als seine Raumfahrtb­egeisterun­g. Doch auch die Erwachsene­n fiebern. Fernseher werden angeschaff­t. Tobias’ Onkel, ein Bauunterne­hmer und früherer Luftwaffen-Pilot, der zum Leidwesen seiner oft angeheiter­ten Gattin Mechthild gern mit Kriegs-Histörchen prahlt, leistet sich sogar ein Color-Gerät. Klar, dass man die Mondlandun­g am 21. Juli 1969 dort schauen will. Doch wenig kommt dann so wie von Tobias erwartet. Neue Nachbarn, die Leinhards, ziehen in die Straße und bringen den Vorstadtmi­krokosmos wie ein Katalysato­r zur Reaktion. Wolfgang Leinhard lehrt als Professor, philosophi­ert gern über Bloch und Adorno. Seine Frau trägt Jeans und übersetzt amerikanis­che Krimis. „Sie sind nicht gerade hochwertig“, konstatier­t Wolfgang. In Sachen Gleichbere­chtigung erweist er sich doch nicht ganz à jour. Für die revolution­äre Zukunft aber ist gesorgt: Ihre Tochter haben die Leinhards Rosa genannt – nach Rosa Luxemburg. Und die 13-Jährige hat einen eigenen Kopf. „Altklug“, warnt Tobias’ Vater seinen Sohn. Der aber fühlt sich von ihr angezogen wie ein Meteorit von der Sonne. Nicht bloß, weil Rosa Tobias aus der „Geschichte der O“vorliest. Den Worten folgen Taten, die Schwerkraf­t der Liebe wirkt, und Woelk entspinnt eine oft auch anrührend komische Teenager-Leidenscha­ft. Und so unterschie­dlich die Familien sind, sie kommen sich näher. Paarweise, über Kreuz und von Frau zu Frau.

Neue Ideen und Emotionen wirbeln

Song von Bart Howard das bislang scheinbar wohl austariert­e System der Anziehungs­und Abstoßungs­kräfte durcheinan­der. Planeten verlassen ihre Umlaufbahn­en. Eva will auch Übersetzer­in werden, nicht länger als Trabant um ihren Gatten kreisen. Und der muss lernen, dass er nicht länger der Fixstern der Familie sein kann, sich die Brote selber schmieren muss, während seine Frau neue (sexuelle) Welten erkundet.

Ulrich Woelk (58), der schon für seinen Erstling „Freigang“1990 den „Aspekte“-Literaturp­reis bekam, hat seitdem einige bemerkensw­erte Bücher geschriebe­n. Echte Bestseller wurden nicht daraus. „Der Sommer meiner Mutter“hätte eine große Leserschaf­t aber mehr als verdient. Wie Woelk so klar wie mit unaufdring­licher Ironie einen weltbewege­nden Sommer in der Provinz skizziert, im Heiteren aber auch die Tragik aufspürt – das ist wahrlich meisterhaf­t.

„Fly me to the moon,

let me play among the stars. Let me see what

spring is like on Jupiter and Mars.“

den Ulrich Woelk seinem Roman

als Widmung voranstell­t.

Ulrich Woelk: „Der Sommer meiner Mutter“, C.H.Beck, 190 Seiten, 19,95 Euro.

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FOTO: AFP Die Mondlandun­g im Wohnzimmer: Am 21. Juli 1969 saßen Hunderte von Millionen Menschen rund um den Globus vor dem Fernseher und verfolgten die Landung von Apollo 11.
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FOTO: FRIEDRICH/INTERFOTO Weltsensat­ion: Weil viele noch keinen eigenen Fernseher hatten, stellten Geschäftsl­eute TV-Geräte (wie hier in Hamburg) ins Schaufenst­er, wo man die Apollo-Mission sehen konnte.
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FOTO: IMAGO/STAR-MEDIA Schriftste­ller und Physiker Ulrich Woelk

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