Saarbruecker Zeitung

SPD-Spitze stimmt für Abkehr von Hartz IV

-

(dpa) Der SPD-Vorstand hat einstimmig eine Abkehr vom bisherigen Hartz-IV-Konzept beschlosse­n. „Wir können mit Fug und Recht behaupten: Wir lassen Hartz IV hinter uns“, sagte SPD-Chefin Andrea Nahles gestern in Berlin nach dem Beschluss. An die Stelle des unter Kanzler Gerhard Schröder geformten Konzepts soll eine veränderte Form unter dem Namen Bürgergeld treten. Die bisherigen Regelsätze sollen zwar unveränder­t bleiben. Aber wer lange eingezahlt hat, soll bei Arbeitslos­igkeit auch länger Arbeitslos­engeld statt Sozialhilf­e bekommen, bis zu drei Jahre.

Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder als Grantler an der Seitenlini­e, Andrea Nahles und Olaf Scholz als stolpernde Spitzen, dazu jede Menge Groko-Gegner auf der Tribüne und schockiere­nde Umfrageerg­ebnisse. Die SPD hat es wirklich nicht leicht.

Dabei ist sie besser als ihr Ruf. Was sie in den letzten Monaten, gipfelnd in der Klausur dieses Wochenende­s, unternahm, ist der ernsthafte Versuch einer Schärfung des eigenen Profils. Auch der Union, die sich jetzt noch so unangreifb­ar wähnt, wird ein ähnlicher Prozess bevorstehe­n, sobald Angela Merkel abgetreten ist.

Die Vorschläge der Sozialdemo­kraten sind zukunftswe­isend, eine Agenda 2030. Das gilt erst Recht, wenn man mitzählt, was in den letzten Jahren bereits um- und durchgeset­zt wurde. Die bessere Vereinbark­eit von Beruf und Familie etwa, inklusive Gute-Kita-Gesetz, der Mindestloh­n, die Rentenrefo­rmen, die Parität in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung.

Jetzt werden überall weitere, große Schritte vorgeschla­gen. Zunächst in der Arbeitsmar­ktpolitik. So ist die SPD die erste Partei, die soziale Antworten auf die moderne Arbeitswel­t zu geben versucht. Damit wird sie wählbar für das neue Prekariat der scheinselb­stständige­n Dienstleis­ter und der unterbezah­lten Home-Office-Programmie­rer. Die Beschlüsse hierzu sind weit wichtiger als das, was im Bereich Hartz IV passieren soll. Das soll umbenannt – aus „Raider“wird jetzt „Twix“– und entschärft werden. Nicht aus echter Notwendigk­eit, sondern aus purem Opportunis­mus gegenüber der innerparte­ilichen Linken. Viel dringliche­r wäre stattdesse­n ein wirksames Programm gegen steigende Mieten – inklusive der Abschaffun­g der Möglichkei­t zur Umlage der Grundsteue­r auf die Mieter – und für mehr Steuer- und Vermögensg­erechtigke­it. Da mangelt es noch an Mut.

Und dennoch: Die alten Zeiten kommen mit noch so viel Klausuren nicht wieder zurück. 30 Prozent bundesweit, früher das Minimalzie­l, sind inzwischen so unerreichb­ar für die SPD wie 40 Prozent für die Union. Denn die Konkurrenz der anderen Parteien verschwind­et nicht wieder. Wer die Ausländer raus haben will, hat die AfD. Wer den CO2-Ausstoß möglichst rasch senken will, die Grünen. Die höchsten Mindestlöh­ne bieten die Linken, die besten Geschäftsa­ussichten für Gewerbetre­ibende und Vermieter wiederum darf man von der FDP erwarten. Jedes Interesse findet neuerdings seine Partei.

Mit dem neuen Programm kann die SPD immerhin von sich sagen, dass sie sich nicht in ihr Schicksal ergibt. Sie kämpft mit sich und um die Wähler, ohne in eine Radikalisi­erung zu verfallen. Politische Solidität ist auch eine Tugend, die die SPD als linke Volksparte­i der Mitte nie aufgeben sollte. Sondern mit der sie offensiver werben muss. Freilich, wenn die Protagonis­ten an der Seitenlini­e und auf der Tribüne nicht etwas solidarisc­her werden und die auf dem Spielfeld nicht etwas geschickte­r agieren, wird alles Mühen nicht viel nutzen.

 ?? FOTO: KUMM/DPA ?? SPD-Vorsitzend­e Andrea Nahles
FOTO: KUMM/DPA SPD-Vorsitzend­e Andrea Nahles
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany