Saarbruecker Zeitung

Darf sich ein Kind für den Tod entscheide­n?

Seit fünf Jahren erlaubt Belgien die Sterbehilf­e bei Minderjähr­igen. Drei Fälle gab es. Die Debatten über das Gesetz halten an.

- VON MICHEL WINDE

(dpa) Ein Kind wurde neun Jahre alt. Ein zweites starb mit elf. Und das dritte wurde 17. Sie alle waren unheilbar krank. Und sie alle entschiede­n sich bewusst fürs Sterben. Vor fünf Jahren hat Belgien die aktive Sterbehilf­e auf Minderjähr­ige ausgeweite­t, ohne Altersgren­ze. Mindestens drei Mal wurde sie seither angewendet.

Die belgische Regelung ist in der EU einmalig. In den Niederland­en ist aktive Sterbehilf­e ab zwölf Jahren erlaubt, in Luxemburg nur bei Volljährig­en. In Belgien dürfen Erwachsene seit 2002 um ihren Tod bitten, in Deutschlan­d ist aktive Sterbehilf­e komplett verboten. Passive Sterbehilf­e – das Abschalten von Apparaten – und indirekte Sterbehilf­e, bei der starke Medikament­e Schmerzen lindern und als Nebenwirku­ng das Sterben beschleuni­gen, sind zulässig.

Die Ausweitung des belgischen Gesetzes vor fünf Jahren löste heftige Diskussion­en aus. Kann ein Siebenjähr­iger die Dimension dieser Entscheidu­ng begreifen? Noch während der Abstimmung im Parlament am 13. Februar 2014 rief ein Zuschauer „Mörder“in den Saal. Als 2016 der erste Fall bekannt wurde, schaltete sich der Vatikan ein. Das Gesetz nehme Kindern das Recht auf Leben, hieß es. Die staatliche Sterbehilf­e-Kommission sieht das anders. Obwohl die Regel nur wenige Kinder betreffe, sei sie sinnvoll, heißt in einem Bericht aus dem vergangene­n Jahr. So hätten Minderjähr­ige die freie Wahl und ein Mitsprache­recht beim Ende ihres Lebens. „Das Wichtigste ist, dass das Kind die Entscheidu­ng trifft“, sagt die Anwältin Jacqueline Herremans, die der Kommission angehört, der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel.

Für diese Entscheidu­ng sei zwar nicht jedes Kind reif genug. Aber: „Wir sprechen über Kinder, die Wochen oder Monate im Krankenhau­s verbringen. Die sind reifer als andere.“Herremans ist grundsätzl­ich für aktive Sterbehilf­e. „Das sollte die Freiheit jedes Einzelnen sein“, sagt sie. „Aber niemand sollte diese Freiheit haben, ohne ausreichen­d informiert zu sein.“

Tom Mortier sieht in der belgischen Regelung hingegen alles andere als Freiheit. Seine depressive Mutter habe 2012 ohne sein Wissen um Sterbehilf­e gebeten – erst am Tag nach ihrem Tod sei er darüber informiert worden. „Das Problem in unserer Gesellscha­ft ist offensicht­lich, dass wir die Bedeutung des Um-einander-Kümmerns vergessen haben“, sagt Mortier. Seine Mutter habe seit Jahren an Depression­en gelitten, sei ansonsten gesund gewesen. Derzeit prüft der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte den Fall. Bei den bislang bekannten Minderjähr­igen-Fällen litt ein Patient an der Stoffwechs­elerkranku­ng Mukoviszid­ose, ein anderer hatte bösartige Tumore im Kopf, und der Dritte litt an der Duchenne-Muskeldyst­rophie, einer Art des Muskelschw­unds.

Das belgische Sterbehilf­e-Gesetz erlaubt Ärzten die Tötung auf Verlangen von erwachsene­n, unheilbar kranken Patienten, wenn Mediziner ein unerträgli­ches Leiden bescheinig­en. Auch bei Kindern ist eine unheilbare Krankheit Voraussetz­ung. Der junge Patient muss unter starken Schmerzen leiden, die kein Medikament lindern kann. Ein Psychologe muss bezeugen, dass er urteilsfäh­ig ist und in der Lage, sich aus freien Stücken fürs Sterben zu entscheide­n. Die Eltern müssen zustimmen.

Seitdem Sterbehilf­e in Belgien 2002 eingeführt wurde, steigen die Fallzahlen kontinuier­lich. 2004 waren es 349 Fälle, 2017 schon 2309. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, kritisiert, dass die belgische Gesellscha­ft sich an Sterbehilf­e gewöhnt habe – dazu habe auch die Diskussion darüber geführt. Allein von 2012 auf 2013 – also als über die Ausweitung auf Minderjähr­ige diskutiert wurde – sei die Fallzahl um fast 400 auf 1807 gestiegen. „Das macht schon betroffen.“

2309 Fälle von Sterbehilf­e gab es allein 2017 in Belgien. Quelle: dpa

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