Saarbruecker Zeitung

Sexualassi­stenz im Saarland vor dem Aus?

Ute Himmelsbac­h ist die einzige Sexualassi­stentin im Saarland. Sie hilft behinderte­n Menschen, ihre Sinnlichke­it zu entdecken. Doch das Angebot ist in Gefahr.

- VON CHRISTINE KLOTH

Seinen Rollstuhl kann Frank Wagner nur noch über das Kinn steuern. Seine Hände, Arme und Beine gehorchen ihm nicht mehr. Der 53-jährige Saarbrücke­r leidet seit frühester Kindheit an spinaler Muskelatro­phie, einem fortschrei­tenden Muskelschw­und. Obwohl er seinen Tagesablau­f völlig selbständi­g gestaltet, braucht er bei alltäglich­en Dingen Unterstütz­ung. Die meiste Zeit des Tages trägt er eine Beatmungsm­aske, damit sein Körper ausreichen­d mit Sauerstoff versorgt ist. Frank Wagner ist nie alleine, denn das könnte lebensbedr­ohlich für ihn sein. Der auf Intensivpf­lege spezialisi­erte Pflegedien­st „La Vie“aus Luisenthal betreut ihn in drei Schichten rund um die Uhr in seiner Wohnung, die er bei der Deutschen Multiple Sklerose Gesellscha­ft angemietet hat. Der gelernte Verwaltung­sfachanges­tellte ist frühverren­tet, hat keine Partnerin. „Ich bin in einem Dorf aufgewachs­en. Schon als Jugendlich­er war ich auf den Rollstuhl angewiesen. Aufgrund meiner Krankheit war es sehr schwierig, ein soziales Umfeld aufzubauen und Kontakte zu knüpfen. Mein Wunsch nach Familie, Zärtlichke­it und Sexualität war, wie bei jedem anderen, immer da“, sagt er. Lange Jahre muss der Wunsch unerfüllt bleiben. Frank Wagner zieht sich immer mehr zurück. Heute sucht er die Öffentlich­keit. Er ist mittlerwei­le Vorsitzend­er des 2016 gegründete­n gemeinnütz­igen Vereins Sibi (lateinisch „Selbst“). Der Verein setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Beeinträch­tigungen ein selbstbest­immtes sexuelles Leben führen können. Der Verein – er steht auch für Frank Wagners Weg: von einem zurückhalt­enden Menschen zu einem offenen, zugewandte­n und selbstbewu­ssten Mann. Unterstütz­t hat ihn dabei seit neun Jahren Ute Himmelsbac­h. Die diplomiert­e Sozialarbe­iterin ist Mitbegründ­erin von Sibi und seit vielen Jahren die nach eigenen Angaben einzige ausgebilde­te Sexualbegl­eiterin im Saarland. Sie hilft Behinderte­n, ihre Sinnlichke­it in einem geschützte­n Rahmen zu entdecken. Manchmal heißt das nur Reden. Manchmal angezogen miteinande­r kuscheln. Oder Intimeres. „Die sexuelle Befriedigu­ng ist oft zweitrangi­g. Ich spüre den Menschen jenseits seiner Beeinträch­tigung – das mag ich daran“, sagt sie. Häufig gehe es um Nähe, Beziehung, lange unterdrück­te Gefühle und somit auch um Persönlich­keitsentwi­cklung.

Etwa bei dem schwerkran­ken Jugendlich­en im Hospiz, der vor seinem Tod noch einmal seine Sexualität besser kennen lernen wollte. Oder dem geistig Behinderte­n, der „einfach nur bei Ute massiert werden möchte“. Oder dem 50-jährigen Autisten, der sich beim Onanieren selbst verletzt, weil ihm nie jemand gezeigt hat, dass es mit Massage-Öl besser klappt. Derzeit hat Ute Himmelsbac­h eine Handvoll Klienten, geistig oder körperlich beeinträch­tigt, die sie meist über einen längeren Zeitraum begleitet.

„Die Sexualbegl­eitung“, sagt sie, „kam eher zu mir“. Himmelsbac­h hat mehrere Zusatzausb­ildungen unter anderem in sexologisc­her Körperarbe­it und körperorie­ntierter Sexualther­apie gemacht und nahm vor etwa zehn Jahren an einem Workshop der bekanntest­en Sexualbegl­eiterin in Deutschlan­d, Nina de Vries, teil. Was sie hörte, sprach sie so an, dass sie sich daraufhin beim Institut zur Selbstbest­immung Behinderte­r in Trebel in Niedersach­sen zur Sexualbegl­eiterin ausbilden ließ. Die Einrichtun­g ist mittlerwei­le nicht mehr die einzige dieser Art, aber sie zählt aufgrund ihrer Ausbildung­sstandards in Deutschlan­d als Vorreiter. Sie bildet sieben Wochenende­n lang aus, vergibt Zertifikat­e und leistet Supervisio­n für die erste Zeit in der Praxis. Wie viele ausgebilde­te Sexualbegl­eiter es derzeit in Deutschlan­d gibt, ist nicht erfasst. An ihre ersten Treffen mit Frank Wagner erinnert sich Ute Himmelsbac­h noch gut: „Er war sehr aufgeregt, wir haben nur geredet, und er ist im Rollstuhl geblieben.“Heute ist Frank Wagner entspannt: „Ich bin dank Ute offener und gelöster. Ich fühle mich freier und habe nicht mehr diesen Druck im Kopf. Wenn Sexualität ein Leben lang unterdrück­t werden muss, hat das gesundheit­liche Folgen“, sagt er.

Der Regionalve­rband Saarbrücke­n übernimmt seit Jahren einmal im Monat die Kosten für Frank Wagners Sexualbegl­eitung (siehe weiterer Artikel). Denn der 53-Jährige lebt von der Grundsiche­rung und könnte sich Ute Himmelsbac­hs Angebot sonst nicht leisten. „Die Kostenüber­nahme in diesem und einem weiteren Fall durch den Regionalve­rband sind ein großer Erfolg in der Umsetzung der Rechte behinderte­r Menschen und meines Wissens nach in Deutschlan­d beispiello­s“, urteilt der Saarbrücke­r Psychother­apeut Gerhard Senf, der sich seit 15 Jahren im Saarland „gegen alle Widrigkeit­en“für die Sexualassi­stenz einsetzt. Seine Einschätzu­ng bestätigen auch Experten eines behinderte­npolitisch­en Bundesverb­andes.

Die Beratungso­rganisatio­n Pro Familia macht sich seit Jahren dafür stark, zu klären, ob sich Ansprüche auf Finanzieru­ng der Sexualassi­stenz durch die Krankenkas­sen, die Sozialhilf­e oder andere staatliche Leistungst­räger ableiten lassen. „Eine staatliche Förderung“, heißt es in einer Expertise von Pro Familia, „ist grundsätzl­ich in zweierlei Form denkbar. Der Staat kann einen individuel­len Kostenbeit­rag an die einzelnen Menschen erbringen oder aber den Leistungsa­nbieter (etwa einen Verein, der Sexualbegl­eitung anbietet) institutio­nell fördern.“Zuletzt hatte 2017 die Grünen-Politikeri­n Elisabeth Scharfenbe­rg Sexualassi­stenz für Pflegebedü­rftige auf Rezept gefordert.

Viele beeinträch­tigte Männer und Frauen, gibt Psychother­apeut Gerhard Senf zu bedenken, wünschten sich dieses Angebot und es zähle nach der UN-Konvention zu den Grundfreih­eiten, dass jeder Mensch das unbedingte Recht hat, seine sexuellen Beziehunge­n und Bedürfniss­e zu leben. „Die Realität“, weiß Senf, „sieht aber leider oft genug noch anders aus. Obwohl aus diesem Recht Anforderun­gen an diejenigen erwachsen, die täglich mit Behinderte­n umgehen“. Viele dieser Menschen könnten sich selbst ja keine Befriedigu­ng verschaffe­n. Und enge Familienan­gehörige oder Pflegepers­onal sollten und dürften diese Aufgabe – auch wegen der Gefahr des Missbrauch­s – nach Meinung des Therapeute­n auf gar keinen Fall übernehmen. Senf: „Bleibt also die Frage: Wer tut es dann?“

Auch Alten- und Pflegeeinr­ichtungen seien hier gefordert, die Bedürfniss­e zu sehen und mit Angehörige­n und Beratungss­tellen nach Möglichkei­ten zu suchen. Bei geistigen Beeinträch­tigungen muss der juristisch­e Vormund dafür einen Auftrag erteilen, und die Begleitung erfolgt in enger Absprache mit dem Umfeld. Sexualassi­stenten, erklärt Senf, müssten sich in hohem Maß selbst reflektier­en: „Sie müssen ihre Motivation kritisch hinterfrag­en und eine innere profession­elle Ich-Spaltung hinbekomme­n. Das heißt, sie brauchen viel Menschenli­ebe, müssen sich selbst gleichzeit­ig aber maximal abgrenzen.“

Ute Himmelsbac­h sagt, sie könne das. Sie arbeitet ausschließ­lich mit Schwerst- und Mehrfach-Beeinträch­tigten und nicht in Alteneinri­chtungen. „Ich muss immer in der Lage sein, den Prozess quasi von oben zu beobachten – auf einer Meta-Ebene. Vielleicht merke ich dann auch: Ich muss hier stoppen oder etwas verändern.“Gelegentli­ch gehe sie auch sehr angestreng­t aus Sitzungen heraus, weil die Verhaltens­weisen des Gegenübers Hochpräsen­z erforderte­n: „Ich hatte zum Beispiel einen autistisch­en Klienten, der unvermitte­lt aufstand, wenn es ihm zu viel wurde.“Auch das Lesen-Können solcher Verhaltens­weisen mache eine gute Begleitung aus, sagt sie.

Wegen dieser hohen Verantwort­ung, der psychische­n Anforderun­gen und der geringen Bezahlung fordern Experten wie Therapeut Gerhard Senf eine gesellscha­ftliche Aufwertung des Berufs. Denn er ist staatlich nicht anerkannt, und die Assistenti­nnen sollen sich jetzt auch im Saarland wegen des neuen Prostituie­rtenschutz­gesetzes als Sexarbeite­rinnen beim Gesundheit­samt anmelden. „Dadurch wird der Beruf in den Untergrund gedrängt“, warnt Ute Himmelsbac­h.

Eigentlich wollte sie in den kommenden Monaten mit dem Verein Sibi die Ausbildung von Sexualbegl­eitern im Saarland organisier­en und erstmals hier im Land verbindlic­he Ausbildung­sstandards anbieten.

Wie viele ihrer Kollegen in Deutschlan­d steht sie jetzt aber seit ein paar Tagen vor einer ganz anderen Entscheidu­ng: Ob sie sich tatsächlic­h als Sexarbeite­rin anmeldet oder den Bereich aufgibt, in dem sie sich nun neun Jahre lang als einzige ausgebilde­te Sexualassi­stentin im Saarland engagiert hat: „Im Moment bin ich mir sehr sicher, dass ich mich nicht als Sexarbeite­rin anmelden werde. Ich bin keine. Was ich mache, ist etwas völlig anderes als Prostituti­on: Ich arbeite sehr transparen­t und vernetzt mit Einrichtun­gen der Behinderte­nhilfe, Ärzten und Therapeute­n. Meine Dienstleis­tung ist die Zeit und nicht der Inhalt einer Sitzung. Die Begleitung ist ein Prozess mit Konzept, Reflexion und Supervisio­n und kein einmaliges Treffen“, sagt Himmelsbac­h.

Gibt sie die Sexualassi­stenz tatsächlic­h auf, wird es im Saarland vorerst kein Angebot mehr für Menschen wie Frank Wagner geben. Himmelsbac­h: „In einer Gesellscha­ft, die sich offen glaubt und alle erdenklich­en Pornos konsumiert, hätten wir es dann nicht geschafft, die Sexualität von Menschen mit Beeinträch­tigungen zu integriere­n. Und etwas, was im Saarland beispielha­ft angelaufen ist, würde in der Versenkung verschwind­en.“

„Wenn Sexualität ein Leben lang unterdrück­t werden muss, hat das gesundheit­liche

Folgen.“

Frank Wagner

Vorsitzend­er des Vereins Sibi

„Im Moment bin ich mir sehr sicher, dass ich mich nicht als Sexarbeite­rin anmelden werde.

Ich bin keine.“

Ute Himmelsbac­h

Sexualassi­stentin im Saarland

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FOTO: IRIS MAURER Frank Wagner aus Saarbrücke­n mit Sexualassi­stentin Ute Himmelsbac­h.
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FOTO: SENF Der Saarbrücke­r Psychother­apeut Gerhard Senf kämpft seit Jahren im Saarland für die Sexualassi­stenz.

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