Bundestag für moderate Reform der Organspende
Emotional und trotzdem sachlich hat der Bundestag über ein ethisch heikles Thema debattiert – und sich deutlich entschieden.
(dpa) Lebensrettende Organspenden bleiben in Deutschland nur mit ausdrücklicher Zustimmung erlaubt. Allerdings soll eine stärkere Aufklärung mehr Bürger dazu bewegen, über eine Spende nach dem eigenen Tod zu entscheiden. Darauf zielen Neuregelungen, die der Bundestag am Donnerstag beschloss. Zuvor war der Vorschlag, dass künftig jeder bis zum Widerspruch Organspender ist, mit 379 zu 292 Stimmen gescheitert. Der Entwurf einer Abgeordnetengruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock setzte sich mit 432 zu 200 Stimmen durch.
Die Gegner sitzen manchmal nebeneinander. Wie Hilde Mattheis gleich vorne neben Karl Lauterbach. Die beiden SPD-Politiker sind die ersten Redner Pro und Contra. Es gibt keine Fraktionen mehr. Nur noch Argumente. Der Bundestag erlebt beim Thema Organspende eine Debatte, von der die Schulklassen auf der Tribüne so einiges lernen können: Emotion, Moral, Grundrechte. Alles auf hohem Niveau. Und dann eine Entscheidung mit Mehrheit. Eine Entscheidung gegen den Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Gegen seine im Vorfeld so heftig diskutierte Widerspruchslösung.
Jeweils rund 200 Abgeordnete haben die beiden Gesetzesvorschläge unterzeichnet. Es geht um die Grundsatzfrage, ob die Menschen von vornherein Organspender sein sollen (Widerspruchslösung), oder dazu erst aktiv ihre Zustimmung geben müssen, wofür die Werbung verstärkt werden soll (Zustimmungslösung). Rund 300 Abgeordnete sind also unentschieden. Um sie geht es, und viele von ihnen sitzen auch im anfangs nur halbvollen Saal. Darunter SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider, der zuvor noch sagte, er wisse noch nicht, wie er abstimmen werde. Nach einer Stunde konzentrierten Zuhörens klatscht er zum ersten Mal bei einem Redner für die Widerspruchslösung, scheint also überzeugt worden zu sein.
Vielleicht, weil es dafür die emotionalsten Auftritte gibt. Denn die Anhänger beanspruchen für sich, schnell eine deutliche Erhöhung der Spenderzahlen erreichen zu können. Karl Lauterbach erklärt, fast alle anderen Länder in Europa hätten die Widerspruchslösung und deutlich mehr Spender. „Wir sind Schlusslicht.“Am stärksten prägt sich wohl die CDU-Politikerin Gitta Connemann
ein, die leise mit dem Satz anfängt: „Wissen Sie, wie es ist, wenn man auf einen Anruf wartet. Und wartet und wartet?“Und dann von ihrem Mitarbeiter „Wendt“erzählt, der unheilbar krank wurde, ein Spenderorgan brauchte, aber nicht bekam und im Sommer letzten Jahres starb. „Wendt hat 130 000 Minuten gewartet“, sagt Connemann leise und bittet inständig um Zustimmung zur Widerspruchslösung.
Claudia Schmidtke, ebenfalls CDU-Abgeordnete und Ärztin, berichtet von einem jungen Mann, der acht Jahre auf eine Lunge gewartet habe. Bis schließlich seine Eltern ihm unter hohem Risiko für ihr eigenes Leben Teile ihrer Lunge gaben. Schmidtke hat diese Familie mitgebracht, sie sitzt auf der Tribüne. Der junge Mann mit Atemschutzmaske. Mit einer minimalen Änderung des Gesetzes könne man eine große Wirkung entfalten, sagt Schmidtke und wird eindringlich: „Ich bitte Sie, gehen Sie diesen Schritt.“Die stärksten Reden für die Gegenseite halten zwei frühere Gesundheitsminister. Ulla Schmidt (SPD) sagt, dass man mit einem System der aktiven, positiven Zustimmung zur Organspende viel mehr für die Spendenbereitschaft erreiche. Und Hermann Gröhe (CDU) ruft aus, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit bedingungslos gelten müsse. „Das Selbstbestimmungsrecht ist ein Anker unserer ethischen Grundüberzeugungen.“
Was fast völlig fehlt in der Debatte, ist Polemik. Zwei Ausnahmen gibt es. AfD-Mann Paul Podolay nennt die Widerspruchslösung „eine sozialistische Gängelung“. Dass die „ehemals freiheitliche CDU“so etwas ebenfalls unterstütze, zeige, „dass die AfD die einzige freiheitliche Partei ist“. Tatsächlich lehnt nicht nur die AfD die Widerspruchslösung mit Ausnahme von vier Abgeordneten ab, auch bei den Grünen sagen 60 von 67 Abgeordneten
hierzu Nein. Die andere Ausnahme bildet der SPD-Politiker Thomas Oppermann, Befürworter der Widerspruchslösung, der einiges Missfallen erzeugt, als er sagt, es gebe zu viele „auf sich selbst bezogene, egoistische Individuen“, die sich nicht entscheiden wollten, ob sie nach ihrem Tod ein Organ spenden oder nicht. Während andere Menschen stürben. Was Oppermann übersieht: Hier macht eigentlich keine Seite der anderen Vorwürfe. Im Gegenteil, viele Redner betonen wie Annalena Baerbock, Grüne: „Wir sind heute hier, um Leben zu retten. Das gilt für beide Entwürfe.“
Gegen Ende der Debatte füllt sich der Saal, es kommen nun auch jene zur Abstimmung herein, die schon vorher entschieden waren. Zuerst wird über die Widerspruchslösung entschieden. Sie fällt in namentlicher Abstimmung mit 292 gegen 379 Stimmen deutlicher als erwartet durch, obwohl sich Gesundheitsminister Spahn als letzter Redner noch einmal mächtig für sie ins Zeug geworfen hat. Die Zustimmungslösung findet mit 382 Stimmen gegen 261 Stimmen hingegen eine Mehrheit.