Saarbruecker Zeitung

Nach über 35 Jahren noch immer kein Täter

Frankreich sucht seit 35 Jahren den Mörder des kleinen Grégory. Nach dem Urteil eines Pariser Gerichtes muss der Fall nun neu bewertet werden.

- VON KNUT KROHN

Der Mord an dem jungen Grégory Villemin hält Frankreich heute noch in Atem. Wegen vieler Ermittlung­sfehler wird der zuständige Richter vor Jahren von dem Fall abgezogen. Doch die Ermittlung­en werden fortgesetz­t.

Es ist eine schwärende Wunde, die schmerzhaf­t aufgerisse­n wird. Seit über 35 Jahren sucht Frankreich nach dem Mörder eines kleinen Jungen – ohne Erfolg. Die „Affaire Grégory“erzählt nicht nur vom tragischen Tod eines Kindes. Sie ist auch die Geschichte von Neid, Missgunst und Rache und sie ist ein Beispiel für das klägliche Versagen der Justiz, die Sensations­lust einer Gesellscha­ft und die fragwürdig­e Arbeit von Journalist­en.

Weil das Leben die spannendst­en Drehbücher schreibt, hat Netflix aus dem Stoff eine kleine TV-Doku gemacht, die seit November ausgestrah­lt wird.

Nun, nach dem Urteil eines Berufungsg­erichtes in Paris am Donnerstag, muss der ungelöste Fall auch juristisch neu bewertet werden. Die damals minderjähr­ige Murielle Bolle hatte in Polizeigew­ahrsam ausgesagt, ihr Schwager habe den vierjährig­en Grégory Villemin getötet – das Gesagte kurz darauf aber widerrufen.

Das Gericht hat nun geurteilt, dass ein zentraler Teil ihrer Angaben wegen Ermittlung­sfehlern aus den Akten gestrichen werden muss. Die Aussage von Murielle Bolle hatte damals tödliche Folgen. Der Vater des ermordeten Grégory erschießt den verdächtig­en Schwager auf offener Straße.

Diese Bluttat lockt schließlic­h die Sensations­lustigen in Scharen nach Lépanges-sur-Vologne, einer kleinen Gemeinde in den Vogesen. Reporter aus dem fernen Paris berichten wie über eine fremde Welt auf einem exotischen Kontinent. Ausgegrabe­n wird, dass die Familie Villemin schon über Jahre bedroht worden war. Nach der Tat erhielten sie einen handgeschr­iebenen Brief. Der Mord sei ein Racheakt gewesen, hieß es darin.

Die Dorfbewohn­er verraten den Reportern, dass viele in der Gemeinde den Vater des kleinen Grégory um seinen Job als Vorarbeite­r in einer Fabrik und den bescheiden­en Wohlstand beneidet hätten. Seine Frau Christine wird von Verwandten als arrogant abgetan.

Am Ende steht das halbe Dorf unter Mordverdac­ht, alle müssen Schriftpro­ben abgeben. Doch das Augenmerk der Polizisten liegt schließlic­h auf der Mutter, die bei der Beerdigung ihres Sohnes vor unzähligen Fernsehkam­eras schluchzen­d

„Die Ermittlung­en werden fortgesetz­t.“

Anwalt von Grégorys Eltern

zusammenbr­icht. Beweise für ihre Schuld gibt es aber keine.

Wegen der vielen Ermittlung­sfehler wird schließlic­h der zuständige Richter Jean-Michel Lambert von dem Fall abgezogen. Er ist damals Anfang 30 und schlicht überforder­t. 33 Jahre danach verfasst Lambert einen Abschiedsb­rief, in dem er schreibt, dass er sich nicht zum Sündenbock stempeln lassen wolle – und nimmt sich im Sommer 2017 das Leben.

Jetzt, nach dem Urteil des Berufungsg­erichtes

in Paris, erklärt der Anwalt von Grégorys erleichter­ten Eltern: „Die Ermittlung­en werden fortgesetz­t.“Sie hoffen noch immer, dass der Mörder ihres Sohnes eines Tages gefunden wird. Mehr als 35 Jahre später.

 ?? FOTO: FEFERBERG/AFP/DPA ?? 23.11.1984, Frankreich, Épinal: Christine und Jean-Marie Villemin, die Eltern des ermordeten Gregory, sitzen hinter einem Bild ihres kleinen Sohnes.
FOTO: FEFERBERG/AFP/DPA 23.11.1984, Frankreich, Épinal: Christine und Jean-Marie Villemin, die Eltern des ermordeten Gregory, sitzen hinter einem Bild ihres kleinen Sohnes.

Newspapers in German

Newspapers from Germany