Saarbruecker Zeitung

Die Abgeordnet­en haben es sich nicht leicht gemacht

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Deutschlan­d ist kein Land von Egoisten und Ignoranten, das das Problem von 10 000 verzweifel­ten Kranken nicht interessie­rt. Das nur noch kalt sagt: Lasst uns damit in Ruhe! Im Gegenteil. Einen Vormittag lang hat das Parlament am Donnerstag mit Leidenscha­ft darüber diskutiert, wie Sterbenskr­anken geholfen werden kann. Es wurden ergreifend­e Schicksale geschilder­t und große Fragen aufgeworfe­n. Von der Verantwort­ung des Einzelnen für seine Mitmensche­n, die über den Tod hinausreic­ht. Aber auch von der Selbstbest­immung über den eigenen Körper. Und vom Verhältnis zwischen Gesellscha­ft und Individuum.

Diese Debatte hat auch die Gesellscha­ft erreicht. Gut 85 Prozent der Menschen befürworte­n eine Organspend­e im Prinzip. Aber nur 30 Prozent haben einen Ausweis. Die meisten haben sich nicht entschiede­n, weder so noch so. Diese Menschen muss man behelligen. Die Widerspruc­hslösung wollte sie zwingen: Wer nicht ausdrückli­ch Nein sagt, hat Ja gesagt. Die Zustimmung­slösung will die Zahl der Spender durch Aufklärung erhöhen. Und beide wollen endlich das schon lange überfällig­e Register schaffen, damit die Ärzte im Notfall schnell Gewissheit über die Entscheidu­ng bekommen.

Das Votum gegen die Widerspruc­hslösung fiel deutlicher als erwartet aus und zeigt: Hierzuland­e stehen Selbstbest­immungsrec­ht und die körperlich­e Unversehrt­heit in dieser Frage offenbar höher im Kurs als in anderen europäisch­en Ländern. Vielleicht aus historisch­en Gründen. Hierzuland­e ist auch das Misstrauen in den Staat und die Medizin größer. Die Transplant­ationsskan­dale vergangene­r Jahre haben dazu sicher beigetrage­n.

Es war eine Entscheidu­ng nach bestem Wissen und Gewissen. Kein Abgeordnet­er hat es sich leicht gemacht, das konnte man spüren. So eine offene Diskussion und Abstimmung ohne Fraktionsz­wang hätte man gerne öfter, auch in nicht-moralische­n Fragen. Die Parteiführ­ungen könnten die Politik dann zwar weniger steuern. Sie würde aber nicht schlechter. Um wie viel ernsthafte­r würde dann zum Beispiel über den Einsatz deutscher Soldaten in Mali oder Afghanista­n diskutiert werden! Das sind auch Gewissense­ntscheidun­gen, die heute aber quasi nebenbei laufen.

Zwischen der Widerspruc­hs- und der Zustimmung­slösung bestehen zwar fundamenta­le Gegensätze, man sollte sie aber auch im Nachhinein nicht aufbausche­n zum moralische­n Gegensatz zwischen Gut und Böse. Beide Seiten wollen das Gleiche: mehr Leben retten. Dafür hat die nachgebess­erte Zustimmung­slösung nun eine zweite Chance bekommen. Jetzt gilt es, mit diesem Instrument­arium in der Praxis mehr Organspend­er zu gewinnen und das System der Transplant­ationsmedi­zin zu optimieren. Der unerträgli­che Zustand muss beendet werden, dass jährlich rund tausend Menschen sterben, für die es bei besserer Organisati­on und Rechtslage Hilfe gegeben hätte. Wenn sich das in fünf Jahren immer noch nicht verändert hat, wird man das Thema neu aufrufen müssen – und dann auch andere Mehrheiten finden.

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