„Ich erzähle von Kämpfern“
Der Forbacher Regisseur zeigt bei der Berlinale seinen Film „Grève ou crève“über seine Heimatstadt.
Aufgewachsen in Forbach hat Jonathan Rescigno (39) Regie und Kunst in Metz und Straßburg studiert. 2009 kam er über ein Stipendium nach Berlin. Seitdem pendelt er zwischen der deutschen Hauptstadt und seiner Heimat in Lothringen. Sein erster Langfilm „Grève ou crève“(Deutsch: Streike oder stirb) läuft in der Reihe „Forum“der Berlinale.
In Ihren früheren Kurzfilmen und Videoinstallationen haben Sie sich mit dem Begriff der Heimat und mit der Verschiebung der Grenzen beschäftigt. Nun haben Sie ihren ersten Langfilm in Forbach gedreht. Ist diese Stadt für Sie Heimat?
RESCIGNO Ja, das kann man so sagen, hier fühle ich mich zu Hause. Dabei ist die Frage von der Zugehörigkeit sehr interessant. Denn sie hängt auch vom Betrachter ab.Wenn ich in Paris bin, nennen mich meine Bekannten aus Spaß „den Deutschen“. In Forbach bin ich der Italiener, denn meine ganze Familie ist in den 1950er Jahren von dort zum Arbeiten nach Lothringen gekommen. Wenn ich in Berlin bin, bin ich dann der Franzose.
In Ihrem Film „Grève ou crève“begleiten Sie Menschen, die sich Herausforderungen verschiedener Art stellen, zum Beispiel nach einem Arbeitsunfall oder vor einem Boxkampf. Zwischen diesen Geschichten werden Archivvideos geschnitten, die den eskalierenden Streik der Bergbauleute 1995 zeigen. Warum verzahnen Sie das?
RESCIGNO
Es geht um die Fortsetzung der Kämpfe. Die Menschen, die 1995 auf die Straße gegangen sind, um für ihre Rechte zu kämpfen, sind die Eltern und Großeltern der heutigen Protagonisten. Ich erzähle die Geschichten von Kämpfern, die ihr Schicksal in die Hand nehmen, um weiter zu kommen. Die Herausforderungen sind andere als vor 20 Jahren, aber mir ging es darum, den Willen der Menschen hier zu zeigen.
Frankreichweit genießt Forbach nicht immer ein positives Image. Die Stadt wird oft in Verbindung mit Arbeitslosigkeit und mangelnden Perspektiven gebracht. Wie sehen Sie das?
RESCIGNO Das ist meiner Meinung nach nur ein sehr verkürzter Blickwinkel und stellt nicht die Stadt dar, wie ich sie kenne. Es ist nicht alles schwarz oder weiß. Ich will nichts beschönigen, aber ich kenne hier vor allem Menschen, die sich den Herausforderungen stellen und nicht aufgeben. Es trifft aber auch auf andere Städte zu. Diese kämpferische Haltung findet man an vielen Orten wieder, wo die Menschen mit schwierigen Bedingungen und Schicksalsschlägen konfrontiert werden. Die Szenen, die im Film gezeigt werden, könnten auch im Norden Frankreichs an der belgischen Grenze oder in ehemaligen Bergbaugebieten in Deutschland spielen.
1995 gingen die Bergleute in Lothringen mit Schaufeln und Spitzhacken auf die Straße, um ihr Sozialsystem zu verteidigen. Heute demonstrieren die Menschen in Frankreich wieder gegen die Rentenreform. Das verleiht „Grève ou crève“eine sehr aktuelle Note.
RESCIGNO Dass die Menschen auch 25 Jahre später entschlossen kämpfen, zeigt, dass die soziale Gewalt in unserer Gesellschaft nach wie vor sehr präsent ist, auch wenn sie seit dem Niedergang der Arbeiterklasse vielleicht andere Formen angenommen hat.
Sie haben für „Grève ou crève“fast zwei Jahre lang in Forbach gedreht. Wie schwierig ist es, als Regisseur Distanz zu den Menschen zu bewahren, die man so lange begleitet?
RESCIGNO Meine Arbeit hat nicht das Ziel, objektiv zu sein. Es geht um meinen Blick auf den Alltag dieser Menschen. Viele von ihnen kenne ich auch persönlich. Natürlich haben wir sehr viel Material gedreht, um so viele authentische Momente wie möglich einzufangen. Wenn die Kamera immer mitläuft, ist es schwer zu sagen, wieviel sich die Protagonisten bewusst oder unbewusst selbst inszenieren. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich sie so lange begleiten durfte und dass sie mir vertraut haben. Dass der Film nun bei der Berlinale läuft, ist für sie auch eine besondere Anerkennung.