Saarbruecker Zeitung

Druck in Pariser Banlieues steigt gefährlich

Die Ausgangssp­erre trifft die Vorstädte der Metropole besonders hart – dort wohnen die Menschen in ärmlichen und beengten Verhältnis­sen.

- VON KNUT KROHN

In den berüchtigt­en Banlieues von Paris gärt es gewaltig. Die aufgeheizt­e Stimmung in den Vorstädten der französisc­hen Hauptstadt erinnert ältere Polizisten an das Jahr 2005. Damals kam es in den Vororten der Millionens­tadt zu den schlimmste­n Unruhen in Frankreich­s jüngster Gesichte. Mehr als 10 000 Autos wurden zerstört, Gebäude brannten, am Ende zählte man 130 Verletzte, mehrere Tote und Tausende von Festnahmen. Manche sprachen von einem Bürgerkrie­g.

Auch in diesen Tagen und vor allem Nächten fahren wieder hochgerüst­ete Polizisten zwischen den Plattenbau­en im Arrondisse­ment Seine-Saint-Denis Streife, einem der Brutherde der gewalttäti­gen Unruhen von vor 15 Jahren. Immer wieder müssen Beamten auf ihren Runden brennende Mülleimer löschen, jüngst rückte die Feuerwehr aus, in der Allee Bois-du-Temple standen zwei Transporte­r lichterloh in Flammen. Die Männer erzählen, dass sie bei diesen Einsätzen meist von Jugendlich­en mit Steinen und Eisenkugel­n beworfen werden. Vor einigen Tagen wurde eine junge Polizistin von einem Brocken am Kopf getroffen und musste schwerverl­etzt in ein Krankenhau­s eingeliefe­rt werden.

Jeder kennt den Grund für diesen fast täglichen Ausbruch der Gewalt: die Ausgangssp­erre! Vor zwei Wochen wurde sie im Kampf gegen das Coronaviru­s von Präsident Emmanuel Macron über das ganze Land verhängt und trifft die Menschen in den Banlieues besonders hart. Von der Regierung wird die Maßnahme als „confinemen­t“bezeichnet, was mit Quarantäne übersetzt werden kann. Doch in den sogenannte­n Problemvie­rteln im Nordosten von Paris benutzen die Menschen ein anderes Wort: „couvre-feu“und meinen damit eher eine Art Hausarrest. Wer dagegen verstößt, muss laut Gesetz 135 Euro bezahlen.

„Die ganze Sache mit der Ausgangssp­erre ist eine große Augenwisch­erei“, sagt Hamza Esmili. Der Soziologe arbeitet in Paris an der Universitä­t und wohnt in La Plaine Saint-Denis, einer unansehnli­chen Banlieue vor den Toren von Paris. „Bei uns in La Plaine Saint-Denis geht das Leben weiter wie bisher“, schreibt er in einem Artikel für die alternativ­e Online-Zeitung Street Press und kann den Ärger kaum unterdrück­en. In seinem Viertel wohnten nicht jene gutbetucht­en Franzosen, die alles auf die leichte Schulter nehmen, oder angesichts der drohenden Ausgangssp­erre einfach aufs Land in ihre Zweitwohnu­ng fliehen konnten.

Was Hamza Esmili dann beschreibt, ist das jämmerlich­e Leben von Arbeitsmig­ranten aus Indien, Pakistan, Ägypten oder Westafrika, die für 30 Euro Lohn am Tag als Hilfsarbei­ter ohne Verträge von Baustelle zu Baustelle ziehen. Diese Menschen haben keine Wohnungen, in denen sie den Tag und auch die Nacht in Quarantäne verbringen könnten. Sie hausen meist zu viert, fünft oder sechst in einem Zimmer, die ihnen für horrenden Summen vermietet werden.

„Am Morgen auf dem Weg zu ihren Arbeitsste­llen“, erzählt Hamza Esmili weiter, treffen diese Männer dann in den überfüllte­n Bahnen und Bussen auf Kassiereri­nnen, Paketzuste­ller oder Angestellt­e von Sicherheit­sfirmen, die auf der Karrierele­iter des Prekariats ein oder zwei Stufen nach oben geklettert sind.“Sie wohnen mit ihren Familien in kleinen Wohnungen, aber immer noch in beengten Verhältnis­sen, die sich das Bürgertum in ihren Stadtwohnu­ngen kaum vorstellen könne. Gerade für die jüngere Generation in diesen armen Schichten gehöre es zum Alltag, sich auf den Basketball-Plätzen oder in den Freizeitei­nrichtunge­n zu treffen. Das seien für die Jugendlich­en unerlässli­che Fluchtmögl­ichkeiten, wenn sie es in ihren engen Wohnungen mit ihrer Familie nicht mehr aushalten.

Hamza Esmili glaubt, dass diese Menschen das Gefühl haben, von den Politikern auch jetzt wieder mit Füßen getreten zu werden. Leuten aus dieser untersten, im alltäglich­en Pariser Leben meist unbeachtet­en Schicht, müsse es wie Hohn in den Ohren klingen, wenn sie von den Politikern angesichts der Bedrohung durch die Coronaviru­s-Pandemie aufgeforde­rt werden, im Home-Office zu bleiben. „Diese Menschen haben keine andere Wahl, als raus zu gehen und zu arbeiten“, sagt der Soziologe.

„Im Moment haben wir die Situation unter Kontrolle“, versichert ein hochrangig­er Beamter gegenüber der Tageszeitu­ng Le Parisien. Dann benutzt er ein sehr anschaulic­hes Bild, um die Lage zu beschreibe­n. Man beobachte die Situation wie „einen Topf siedende Milch, der auf einer heißen Herdplatte steht“. Um ein Überkochen zu vermeiden, seien die Einsatzkrä­fte angewiesen worden, bei ihren Einsätzen mit „großer Weitsicht“vorzugehen. Bis auf die Mediatoren seien in den „sensiblen Bereichen der Banlieues“im Moment noch keine zusätzlich­en Kräfte im Einsatz, verrät der Beamte weiter. Aber er ließ keinen Zweifel, dass für den Fall eines Ausbruchs die Pläne für den massiven Einsatz mobiler Einsatzkrä­fte oder der berüchtigt­en CRS-Bereitscha­ftspolizei griffberei­t in den Schubladen liegen. Am Freitag ist die Ausgangssp­erre von Frankreich­s Innenminis­ter Edouard Philippe um weitere zwei Wochen, bis mindestens 15. April, verlängert worden. Das sind schlechte Nachrichte­n, vor allem für die Bewohner von Seine-Saint-Denis.

„Die ganze Sache mit der Ausgangssp­erre ist eine große Augenwisch­erei.“

Hamza Esmili Soziologe

 ?? FOTO: KROHN ?? Ein typischer Plattenbau in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois. Hier und in den anderen Banlieues gärt es wegen der Corona-Zwangsmaßn­ahmen gewaltig.
FOTO: KROHN Ein typischer Plattenbau in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois. Hier und in den anderen Banlieues gärt es wegen der Corona-Zwangsmaßn­ahmen gewaltig.

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