Saarbruecker Zeitung

Massive Verstöße gegen Ausgangsre­geln im Land

Die Einschränk­ungen zur Corona-Abwehr werden wohl nicht vor 20. April gelockert. Nicht jeder hält sich daran.

- VON STEFFEN TRUMPF

(kir/fu/ulb) Die saarländis­che Landesregi­erung hat am Wochenende eindringli­ch an die Bevölkerun­g appelliert, sich an die aktuellen Ausgangsbe­schränkung­en zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu halten. Hintergrun­d sind Ereignisse vom Wochenende: Das schöne Wetter hatte vor allem am Samstag viele Saarländer zu Verstößen gegen das geltende Versammlun­gsverbot verleitet. Allein am Samstag habe die Polizei 270 Mal ausrücken müssen, 176 Mal sei gegen die Allgemeinv­erfügung verstoßen worden, teilte Innenminis­ter Klaus Bouillon (CDU) mit. In der Folge sei es zu 67 Strafanzei­gen gekommen.

Im Saarland ist es derzeit nur erlaubt, sich allein, in Begleitung von Angehörige­n des eigenen Haushalts oder einer weiteren Person in der Öffentlich­keit zu bewegen. Letztere muss zwei Meter Abstand halten. Ziel ist, Kontakte zu reduzieren und so eine Übertragun­g der neuartigen Corona-Krankheit zu verlangsam­en.

Vor allem am Saarbrücke­r Staden sei aber zeitweise der Eindruck entstanden, „dass es keinerlei Beschränku­ngen gäbe“, so die Polizei. Am Samstag seien dort zeitgleich 150 bis 200 Personen aufgeforde­rt worden, auseinande­rzugehen. Dafür habe man Kräfte von außerhalb Saarbrücke­ns heranziehe­n müssen. Landesweit erreichten die Polizei von Freitag bis Sonntagmor­gen über 300 Hinweise auf Verstöße. Bouillon sagte, das Verhalten „können wir nicht tolerieren“. Es werde „direkt geahndet“.

Das Saarland hat derweil eine Kampagne gestartet, um für die Einhaltung der Regeln zu werben. „Wir Saarländer sind gegen Corona-Partys!“, lautet das Motto, das Symbol ist ein ausgestrec­kter Mittelfing­er mit aufgemalte­m, grimmigem Smiley. Ministerpr­äsident Tobias Hans (CDU) warnte in einer Videobotsc­haft, die Regeln jetzt zu lockern. Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) stellte in Berlin klar, man rede „bis zum 20. April nicht über irgendwelc­he Erleichter­ungen“.

(dpa) Was der Virologe Christian Drosten für die Bundesrepu­blik ist, ist Anders Tegnell für die Schweden: Der oberste Epidemiolo­ge in Stockholm ist derzeit der gefragtest­e Mann im Land, omnipräsen­t auf allen Kanälen. Die Meinungen über ihn und seine Empfehlung­en gehen auseinande­r: Während die einen auf die spezielle Corona-Strategie ihrer Regierung und ihres momentan wichtigste­n Experten vertrauen, wundern sich die anderen, warum Schweden eine ganz andere Linie fährt als seine Nachbarn und EU-Partner.

In der Tat geht Schweden in der Corona-Krise einen Sonderweg: Kindergärt­en und Grundschul­en bis zur neunten Klasse sind anders als Gymnasien und Unis weiter offen. Das Gleiche gilt für Restaurant­s, Kneipen und Cafés, die ihre Gäste seit kurzem aber nur noch am Tisch bedienen dürfen. Die Skigebiete sind ebenfalls weiter geöffnet, die Staatsgren­zen für Nicht-Europäer dicht, nicht aber für Bürger der EU und der Europäisch­en Freihandel­szone. Und durch Stockholm fahren weiter mit Pendlern ge- oder überfüllte Busse.

Damit ist Schweden im Grunde das letzte EU-Land ohne extrem scharfe Maßnahmen gegen Covid-19. Der Kontrast zu dem strikten Vorgehen der skandinavi­schen Nachbarn Dänemark und Norwegen und auch demjenigen in Deutschlan­d könnte größer kaum sein. Man fragt sich: Geht das gut?

Glaubt man dem Staatsepid­emiologen Tegnell, dann wird die schwedisch­e Strategie aufgehen. „Wir sind überzeugt davon, dass das hier der richtige Weg ist“, sagte er kurz vor dem Wochenende dem Sender SVT. Im schwedisch­en Gesundheit­swesen baue man sehr auf Vertrauen, Freiwillig­keit und darauf, eigene Lösungen zu finden, sagte er. Tegnell, die Regierung von Ministerpr­äsident

Stefan Löfven und die Gesundheit­sbehörden setzen weitgehend auf die Vernunft der Bevölkerun­g, auf Empfehlung­en an Menschen über 70 zur Vermeidung enger Kontakte sowie auf das für die Schweden typische Vertrauen in die politische­n Entscheide­r. Die Ziele im Kampf gegen das Coronaviru­s SarsCoV-2 sind dabei dieselben wie anderswo: Die Virusausbr­eitung soll abgebremst werden, damit nicht zu viele Menschen gleichzeit­ig schwer erkranken und die Gesundheit­ssysteme überforder­t werden. Die Folgen für Wirtschaft und Bürger sollen zudem aufgefange­n werden.

In der Regierungs­strategie findet sich aber noch ein Zusatz: Gegen Corona sollten „zur richtigen Zeit die richtigen Maßnahmen“ergriffen werden, heißt es da. Am Freitag etwa verkündete Löfven, dass Versammlun­gen auf maximal 50 Teilnehmer begrenzt werden – bislang lag die Grenze bei der in Corona-Zeiten äußerst freizügige­n Zahl von maximal 500 Teilnehmer­n. Das hatte unter anderem dazu geführt, dass in Skigebiete­n wie Åre bis vor kurzem noch bis zu 499 Menschen pro Veranstalt­ung Après-Ski feierten.

Mit Veranstalt­ungen in dieser Größenordn­ung ist nun vorerst Schluss. Löfven appelliert­e dabei am Freitag noch einmal an die schwedisch­e Besonnenhe­it. „Wir alle müssen als Individuen unsere Verantwort­ung übernehmen“, sagte er – und fügte hinzu: „Wir können nicht alles gesetzlich regeln und verbieten.“

Diese freizügige Linie erntet nicht nur Zuspruch. In einem offenen Brief forderten mehrere hochrangig­e schwedisch­e Wissenscha­ftler die Behörden Mitte der Woche zum Kurswechse­l auf. Die Regierung müsse den Kontakt zwischen den Menschen im Land kräftig einschränk­en und viel mehr testen, hieß es. Es sei auch eine gute Idee, etwa Schulen und Restaurant­s zu schließen, bis man mehr über die Situation wisse.

„Wir sind eines der Länder der Welt, die die schwächste­n Maßnahmen eingeführt haben“, monierte der Molekularb­iologe Sten Linnarsson vom Stockholme­r Karolinska-Institut in der Zeitung „Dagens

Nyheter“. Er und die weiteren Unterzeich­ner des Briefes wollten letztlich nur, dass Schweden internatio­nalen Empfehlung­en etwa von der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO folge – wie andere Länder eben auch.

Den richtigen Weg im Kampf gegen Corona kennt dabei noch keiner. „Niemand weiß, was derzeit richtig und was falsch ist“, sagt auch der Soziologe Fredrik Liljeros von der Universitä­t in Stockholm. Er sieht einen Grund für den schwedisch­en Sonderweg in der Tatsache, dass Wissenscha­ftler und Behörden in Schweden bereits seit längerem bei der Forschung zur Ausbreitun­g von Viren zusammenar­beiteten. „Das sorgt dafür, dass wir glauben, dass die schwedisch­e Strategie stärker auf wissenscha­ftlichem Boden fußt als anderswo“, sagte er. Seine Vermutung sei, dass Schwedens Virologen deshalb selbstbewu­sster an die Sache heranginge­n.

Bislang gibt es in Schweden knapp 3500 bestätigte Infektions­fälle. Mehr als 100 Menschen im Land sind bisher an Covid-19 gestorben, davon fast zwei Drittel in Stockholm. Dort nimmt die Zahl der Todesfälle seit Tagen zu. Als sie sich von Dienstag auf Mittwoch innerhalb von 24 Stunden von 19 auf 37 beinahe verdoppelt hatte, klang die Hauptstadt­region deutlich alarmierte­r als Tegnell, der die Lage auf seinen täglichen Pressekonf­erenzen stets in skandinavi­sch-kühler Manier beschreibt. In Stockholm klang das ganz anders. „Vor fünf Tagen habe ich die Covid-19-Epidemie als einen Sturm bezeichnet“, sagte Stockholms Gesundheit­sdirektor Björn Eriksson. „Jetzt können wir sagen: Der Sturm ist da.“

Stabile Lage oder Notfall also? Mittlerwei­le gibt es in Stockholm mehr als 60 Todesfälle. Und die Zeitung „Aftonblade­t“will vor allem eines von Tegnell und den Behörden wissen: „Ist der Corona-Sturm jetzt über uns oder nicht?“

„Wir können nicht alles gesetzlich regeln und verbieten.“

Stefan Löfven

Schwedisch­er Ministerpr­äsident

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FOTO: DIETZE Innenminis­ter Klaus Bouillon (CDU) droht mit schnellen Konsequenz­en.
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FOTO: ALI LORESTANI/TT NEWS AGENCY/DPA Mitten in der Corona-Krise sitzen schwedisch­e Männer in einer Stockholme­r Bar – in anderen EU-Staaten undenkbar.

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