Saarbruecker Zeitung

Leise ist’s, man hört die Uhren ticken

Das Selbstvers­tändliche hat sich verflüchti­gt, wir sind auf uns selbst zurückgewo­rfen – und müssen uns neu finden. So philosophi­ert unsere Autorin über das Leben mit der Corona-Krise.

- Produktion dieser Seite: Martin Rolshausen, Jörg Wingertsza­hn, Jörg Laskowski

Die Stille ist intensiv. Kaum fahren Autos. Man hört draußen keine Gespräche, kein Geplauder. Sind doch mal Stimmen zu vernehmen, erschrickt man beinah. Was bis vor kurzem ganz normal war, ist es nicht mehr. Das Selbstvers­tändliche hat sich verflüchti­gt, wir müssen uns neu finden, sind auf uns selbst zurückgewo­rfen. Wir hatten natürlich längst vorausgese­tzt, dass alles immer für alle jederzeit verfügbar sein wird. Dass man, was man will, auch bekommt, dass alles grenzenlos machbar ist, dass man mindestens zwischen 300 Nudel- und 54 Müslisorte­n wählen können muss, dass man für ein Taschengel­d um die halbe Welt und zurück fliegen kann. Nun, das ist passé, wir fühlen uns unsicher und hilflos. Irgendwie unfreiwill­ig in eine Art Ruhemodus versetzt und meist nur noch online mit anderen verbunden. Die Zeit scheint sich zu dehnen, auch nach der Arbeit ist mehr davon Rest als früher. Wo wir sonst in Cafés, Restaurant­s und Theatern gesessen haben – erschrecke­nd dicht beieinande­r eigentlich – hocken wir jetzt in unseren Stuben und könnten zum Beispiel lesen. Den guten Wilhelm Busch etwa. Da werden Kinder geschrotet, mit Scheren geköpft, in Gurkengläs­ern eingemacht. Ständig qualmt es, explodiert etwas, fliegen boshaft kleingeist­igen Bürgersleu­ten Töpfe, Kannen, Kessel um die Ohren. Ganze Haushalte werden fix zu Brei gemacht, Räuber zermalmt der Mühlstein, selbst der Teufel fährt freiwillig wieder zur Hölle, nachdem ihn der Schmied auf dem Amboss unsanft bearbeitet: „Er fasst ihn mit der Zange, dem Teufel wird es bange.“Je absurder die Mär, je gemeiner und scheinheil­iger das Busch-Personal, desto unvermeidl­icher müssen wir lachen. Vor Staunen, Schreck und Schadenfre­ude, weil wir ja nicht so sind, nicht gemeint sein können.

Und auch wenn wir gerade mit seinem Tobias Knopp meinen könnten: „Ach, so denkt er, diese Welt, hat doch viel, was nicht gefällt.“, ist dennoch wieder der Frühling gekommen. Kaum bemerkt, wenig euphorisch begrüßt. Kühl fühlt sich das blaue Band an, gleichgült­ig flattert es. Die Vögel pfeifen in die Stille…

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