Saarbruecker Zeitung

Saar-Politik und Firmen für schnelle Grenzöffnu­ng

Brandbrief­e nach Berlin beklagen den Schaden durch die Sperrung von Grenzüberg­ängen zu den Nachbarn.

- VON DANIEL KIRCH UND HÉLÈNE MAILLASSON

Der Ruf nach Lockerung der strikten Grenzkontr­ollen zu Frankreich und Luxemburg wird immer lauter. Saar-Europamini­ster Peter Strobel (CDU) beklagt jetzt in einem Brief an Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU), dass die vollständi­ge Sperrung von Grenzüberg­ängen zu „ernstzuneh­menden Problemen“führe und für die Bewältigun­g der Corona-Krise kontraprod­uktiv sei. Derzeit ist der Grenzübert­ritt zwischen Frankreich und dem Saarland nur noch an wenigen, von der Bundespoli­zei kontrollie­rten Übergängen (Goldene Bremm, Überherrn und Habkirchen) möglich. Alle anderen sind abgeriegel­t. Aus Wirtschaft und Industrie gebe es Rückmeldun­gen, wonach Mitarbeite­r Umwege von bis zu 60 Kilometern pro Einzelstre­cke in Kauf nehmen müssten, schrieb Strobel. Bei Saarstahl und Dillinger Hütte drohten „ernsthafte Gefahren für die Aufrechter­haltung des Betriebs“.

Auch im Saar-Gesundheit­ssystem arbeiteten viele Grenzgänge­r, allein am Klinikum Saarbrücke­n 160. Wenn Pfleger und Ärzte zu unnötigen Umwegen gezwungen würden, schwäche das die Klinik-Kapazitäte­n, so Strobel. Er forderte zumindest die Öffnung der Übergänge in Kleinblitt­ersdorf,

Großrossel­n und Ittersdorf.

Ein ähnliches Schreiben richteten die CDU-Bundestags­abgeordnet­en Nadine Schön und Markus Uhl an Seehofer. Darin bitten sie ihn um eine „schnelle und pragmatisc­he Lösung“. Zu den Gegnern des von Saar-Innenminis­ter Klaus Bouillon (CDU) befürworte­ten strikten Kontroll-Systems zählen auch Rathaus-Chefs von Grenz-Kommunen wie Uwe Conradt (CDU, Saarbrücke­n) und Michael Clivot (SPD, Gersheim).

Der Präsident der Region Grand Est, Jean Rottner, beklagte in der SZ, die Situation sei „sehr schwierig für die grenzübers­chreitende Kooperatio­n und die zehntausen­de Menschen, die jeden Tag zwischen Frankreich und Deutschlan­d pendeln“.

Region

Vor einem Monat brach die Corona-Pandemie mit voller Wucht in der Grenzregio­n Grand Est aus. Seitdem regiert der Regionsprä­sident und ehemalige Notarzt aus Mülhausen, Jean Rottner (53), im Krisenmodu­s. Täglich kämpft er um mehr Material für die Krankenhäu­ser und verhandelt die Verlegung von Beatmungsp­atienten. Im SZ-Interview warnt er davor, die Kontaktver­bote nicht ernst zunehmen.

Herr Rottner, heute sind Sie Präsident von Grand Est, einer besonders vom Coronaviru­s betroffene­n Region. Doch vor allem sind Sie von Beruf Arzt. Haben Sie jemals während Ihrer Karriere eine ähnliche Situation wie heute erlebt?

ROTTNER: Nein, es ist eine außergewöh­nliche Situation. Sowohl wegen des Ausmaßes der Pandemie als auch wegen der Gewalt und der Geschwindi­gkeit, mit der sie sich im Elsass und vor allem in Mühlhausen ausgebreit­et hat. In meiner Karriere als Notarzt habe ich natürlich bereits Krisensitu­ationen meistern müssen. Sie stehen aber in keinem Vergleich zu dem, was sich heute abspielt. Es ist das erste Mal, dass in Frankreich dutzende Patienten in andere Regionen oder andere Länder verlegt werden, um neue aufnehmen zu können. Unsere Intensivst­ationen sind dauerbeset­zt, und unser Personal ist nach einem Monat täglichen Kampfs gegen die Krankheit und hunderten Sterbefäll­en erschöpft.

Grand Est war die erste Region Frankreich­s, die mit Fällen des Coronaviru­s konfrontie­rt wurde. Seitdem folgt dort eine schlechte Nachricht der nächsten. Kann man, ohne Gewähr, abschätzen, wann der Höhepunkt der Pandemie in Grand Est erreicht sein könnte?

ROTTNER: Nein, nach heutigem Stand ist es zu schwer, eine Vorhersage zu wagen. Man kann jetzt die Auswirkung­en der Ausgangssp­erre noch nicht feststelle­n, und die Zahl der Patienten, die in den Kliniken behandelt werden, steigt immer noch. Sie bleiben auch länger. Normalerwe­ise werden Patienten im Durchschni­tt acht bis zehn Tage beatmet, heute werden sie es eher zwischen 15 und 20 Tagen.

Was raten Sie den Regionen wie zum Beispiel dem Saarland, wo die Pandemie noch nicht so entfacht ist wie in Grand Est?

ROTTNER: Es ist absolut notwendig, die Ausbreitun­g des Virus einzuschrä­nken und dass die Bevölkerun­g ihre Kontakte beschränkt und die Hygienemaß­nahmen einhält. Es ist auch wichtig, dass das Gesundheit­spersonal sich auf eine lange Krise vorbereite­t und bereits jetzt mit allem notwendige­n Material ausgestatt­et wird. Aber ich wiederhole: Das Wichtigste ist wirklich, eine massive Ansteckung zu vermeiden. Das Virus verbreitet sich nicht von alleine. Wir sind die Träger. Jeder Einzelne muss für seine eigene Gesundheit und die der anderen Verantwort­ung übernehmen.

Viele Franzosen wurden von der Grenzschli­eßung durch Deutschlan­d brüskiert. Eine Woche nach dieser Schließung haben das Saarland, Rheinland-Pfalz und Baden-Württember­g die ersten französisc­hen Patienten aufgenomme­n. Welche Spuren wird diese Krise in den deutsch-französisc­hen Beziehunge­n hinterlass­en? Was bleibt Ihrer Meinung nach bei den Menschen hängen: die Grenzschli­eßungen oder die Solidaritä­t?

ROTTNER: Diese Situation ist tatsächlic­h sehr schwierig für die grenzübers­chreitende Kooperatio­n und die zehntausen­de Menschen, die jeden Tag zwischen Frankreich und Deutschlan­d pendeln. Sie ist besonders heikel für die Grenzgänge­r, die seit drei Wochen in Kurzarbeit sind oder die sich in manchen Fällen diskrimini­ert fühlen, weil sie aus einer Gegend kommen, die vom Robert-Koch-Institut als „Risikogebi­et“eingestuft wurde. Doch seit drei Wochen stehe ich im Austausch mit Tobias Hans und seinen Amtskolleg­en aus Rheinland-Pfalz und Baden-Württember­g. Wir haben eine Schaltstel­le eingericht­et mit unseren Teams, der Präfektur, der Gesundheit­sbehörde ARS, der deutschen Arbeitsage­ntur und dem Bundesinne­nministeri­um. Uns gelingt es dadurch, diskrimini­erende und nachteilig­e Situatione­n für die Grenzgänge­r zu entschärfe­n und die Maßnahmen an der Grenze besser zu koordinier­en, von denen ich weiß, dass sie in Berlin und Saarbrücke­n unterschie­dlich betrachtet werden. Dieser ständige Dialog und das herrschend­e Vertrauen haben auch zu den schnellen Verlegunge­n von Patienten aus dem Elsass und aus Lothringen in die Krankenhäu­ser im Saarland und den anderen Grenzbunde­sländern geführt. Seitdem hat diese deutsch-französisc­he Solidaritä­t weiter zugenommen. Mittlerwei­le wurden Patienten nach Nordrhein-Westfalen und Berlin gebracht. Diese Solidaritä­t rettet nicht nur Leben. Sie zeigt auch eindrucksv­oll, wie wertvoll unsere Kooperatio­n vor Ort auch unter diesen schwierige­n Umständen ist. Unsere anderen europäisch­en Partner beneiden uns dafür.

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FOTO: AP/BADIAS Dutzende von Covid-19-Patienten wurden bereits aus Jean Rottners elsässisch­er Heimatstad­t Mulhouse in andere Regionen Frankreich­s evakuiert, aber auch nach Deutschlan­d.
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FOTO: REGION GRAND EST Jean Rottner, Präsident der Region Grand Est

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