Können Herzleiden übertragen werden?
Kieler Forscher präsentieren eine verblüffende Hypothese. Tierversuche geben die ersten Hinweise.
(byl) An welchen Krankheiten sterben in Deutschland die meisten Menschen? Bei der Antwort auf diese Frage verschätzen sich die meisten von uns. Nicht Krebs führt die Statistik an, sondern Herz-Kreislauf-Krankheiten. Sie machen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 37 Prozent der Sterbefälle aus, Krebs ist mit deutlichem Abstand (25 Prozent) die zweithäufigste Ursache der jährlich etwa 950 000 Todesfälle. Beide Krankheiten definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als nicht übertragbar. Die WHO geht davon aus, dass sie durch eine Kombination von genetischen Faktoren, Lebensstil und Umwelt verursacht werden.
Daran meldet jetzt aber ein deutsch-kanadisches Forscherteam Zweifel an. Professor Thomas Bosch von der Uni Kiel und Wissenschaftler des Canadian Institutes for Advanced Research gehen davon aus, dass Auslöser von Herzkrankheiten, aber auch von Diabetes und Adipositas möglicherweise von Mensch zu Mensch weitergegeben werden können. Bisher sprechen die Forscher erst von einer Hypothese. Doch wenn die sich als richtig herausstelle, werde sie die Auffassung der öffentlichen Gesundheit völlig neu definieren, sagt Professor Brett Finlay von der Universität von British Columbia.
Die Schlüsselrolle bei diesen Überlegungen der Forscher spielt das sogenannte Mikrobiom. Der Begriff fasst die Gesamtheit aller Bakterien, Pilze und Viren zusammen, die auf oder in einem Menschen leben. Und das ist eine riesige Zahl. Allein die Zahl der Bakterien eines Menschen könnte mindestens so hoch wie die Zahl seiner Körperzellen sein. Der Darm ist Lebensraum von Billionen von Bakterien. Viele ihrer Funktionen sind noch unbekannt. Wissenschaftler der Uni Bern haben gerade berichtet, dass Darmbakterien Einfluss auf Darmbewegung und Verdauung haben. Mediziner des Deutschen Krebsforschungszentrums und der Hebrew University in Jerusalem haben in Tierversuchen entdeckt, dass Darmbakterien die Genregulierung von Zellen der Darmschleimhaut verändern können. Das reiche bis „zu einer massiven Steigerung der Aktivität entzündungsund auch krebsfördernder Gene“. Forscher des Leibniz-Instituts für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie in Jena gehen schließlich davon aus, dass das Darmmikrobiom einen großen Einfluss auf die Wirksamkeit einer Chemo- oder Immuntherapie bei Krebspatienten hat. Das Mikrobiom ist so individuell wie ein Fingerabdruck, aber es ist nicht unveränderlich. Es wechselt seine Zusammensetzung und damit seine Funktion abhängig vom Lebensstil, von der Ernährung und von Umweltfaktoren. Die Hypothese der Forscher zur Übertragung typischer Wohlstandsleiden, die sich in den vergangenen Jahren rasant vermehrt haben, stützt sich im Wesentlichen auf drei Punkte.
Erkenntnis Nummer eins lautet: Bei Herz-Kreislauf-Leiden, Adipositas, entzündlichen Darmerkrankungen und Diabetes (Typ 2) ist das Mikrobiom deutlich verändert.
Erkenntnis Nummer zwei: Das Mikrobiom
kann übertragen werden. Wie das in der Natur geschieht, ist unbekannt, erklärt Thomas Bosch. Dafür sei aber nicht zwingend ein direkter physischer Kontakt nötig.
Erkenntnis Nummer drei: Wenn in Tierexperimenten zum Beispiel das Mikrobiom einer fettleibigen Maus in gesunde Tiere übertragen wird, werden die ebenfalls dick. Außer bei Mäusen haben die Kieler Forscher eine Übertragung auch bei Zebrafischen und Süßwasserpolypen nachgewiesen, erklärt Thomas Bosch.
„Wenn man diese Fakten zusammenfasst, legt das die Vermutung nahe, dass viele traditionell nicht als übertragbar eingestufte Krankheiten vielleicht doch übertragbar sind“, sagt Brett Finlay. Thomas Bosch hält es für denkbar, dass die Übertragung des Mikrobioms „auch beim menschlichen Zusammenleben stattfindet, zum Beispiel durch intensive soziale Kontakte“. So könnte eine gemeinsame Ernährung die Lebensgrundlagen für bestimmte Bakterienarten im Darm verbessern. Allerdings seien zahlreiche Fragen, die mit dieser Hypothese verbunden sind, völlig offen, erklärt Thomas Bosch. Der Kieler
Zoologe ist Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“. Eine interessante Frage wäre zum Beispiel, ob ein gesundes Mikrobiom zur Heilung einer Krankheit genutzt werden könnte. Doch eine Antwort darauf sei schon deshalb heute nicht möglich, weil „wir bisher nicht wissen, wie ein gesundes Mikrobiom aussieht“.