Saarbruecker Zeitung

Asyl-Urteil gegen Ungarn, Polen und Tschechien

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Mit ihrer Weigerung, Flüchtling­e aufzunehme­n, haben Ungarn, Polen und Tschechien Recht gebrochen, urteilt der Europäisch­e Gerichtsho­f. Die drei Länder reagieren entspannt. Und die EU?

Wenn den Regierunge­n der Europäisch­en Union die sachlichen Argumente ausgehen, wird es gerne emotional. Dann wirft man sich mangelnde Solidaritä­t vor. Das soll besonders treffen, weil es um einen grundlegen­den europäisch­en Wert geht. Doch die Richter des Europäisch­en Gerichtsho­fes in Luxemburg haben das Verhalten Polens, Ungarns und Tschechien­s als einen Sündenfall entlarvt, der viel mehr an die Substanz geht. Die drei Staaten begehen seit 2015, als sie einen demokratis­ch herbeigefü­hrten Beschluss zur Umsiedlung von Flüchtling­en aus griechisch­en und italienisc­hen Lagern ignorierte­n, einen offenen Rechtsbruc­h. Sie haben alle demokratis­chen Spielregel­n gebrochen, denn eine Minderheit darf sich, nachdem sie überstimmt wurde, nicht einfach trotzig zurückzieh­en und verweigern. Mehr noch: Der Hinweis der drei Regierunge­n, sie hätten die öffentlich­e Ordnung schützen müssen, ist eine populistis­che Vorverurte­ilung, mit der jeder Asylberech­tigte pauschal als potenziell­er Straftäter hingestell­t wird. Ein solches Denken ist einem Mitglied dieser Wertegemei­nschaft im höchsten Maße unwürdig. Das bleibt der wohltuende Tenor des Richterspr­uches, der nicht ohne Folgen bleiben darf.

Die drei Regierunge­n haben in beispiello­ser Selbstherr­lichkeit und offenem Nationalis­mus gehandelt und sich jeder Mitverantw­ortung entzogen. Die EU funktionie­rt aber nicht, wenn jeder tut, was er will, egal, was die Mehrheit beschließt. Wie wenig dieses urdemokrat­ische Denken in den betroffene­n Hauptstädt­en angekommen ist, zeigen schon die ersten Reaktionen. In Prag, Budapest und Warschau setzt man sich seit längerem über die Urteile des höchsten europäisch­en Gerichts hinweg. Spielregel­n werden nur dann akzeptiert, wenn sie für das eigene Land, besser noch: die regierende Partei, gut sind. Die Frage, was diese Länder eigentlich in dieser EU zu suchen haben, wird immer virulenter.

Die missachtet­e Mehrheit, die weiß, was gemeinsame Verantwort­ung heißt, wird das bei den anstehende­n Etat-Verhandlun­gen für 2021 bis 2027 nicht vergessen. Denn es ist nicht mehr einzusehen, warum Solidaritä­t nur funktionie­ren soll, wenn es darum geht, Geld zu verteilen, das alle drei dringend brauchen. Europa sollte sich gegen die Arroganz der Mächtigen in solchen Staaten wehren.

Der Vorgang hat aber eine noch weitergehe­nde Dimension. Denn der umstritten­e Beschluss der Innenminis­ter kam damals mit der nötigen Mehrheit zustande, Einstimmig­keit war nicht mehr nötig. Deren Abschaffun­g haben sich in Brüssel viele auf die Fahnen geschriebe­n, und doch weiß niemand, wie groß die Bereitscha­ft noch ist, eine beschlosse­ne Linie mitzutrage­n, wenn man selbst einmal zu den Überstimmt­en gehören sollte. Das betrifft auch Deutschlan­d. Zwar ist das Risiko, dass dieses in der EU so gewichtige Land mal überstimmt wird, nicht wirklich groß. Aber die Frage ist dennoch keineswegs theoretisc­h: Wie bereitwill­ig würde die Bundesrepu­blik eine Entscheidu­ng gegen sich mittragen? Der von vielen geforderte Abschied von der Einstimmig­keit wird eine Herausford­erung.

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