Boris Johnson gerät in Corona-Krise zunehmend unter Druck
Noch immer herrscht in Großbritannien ein eklatanter Mangel an Tests und Schutzausrüstung für das medizinische Personal.
LONDON Selbst in Corona-Quarantäne konnte Boris Johnson leicht erkennen, in welch großen Schwierigkeiten er steckt. Der britische Premierminister musste am Donnerstag nur die konservative Zeitung The Daily Telegraph aufschlagen. Es ist sein Hausblatt, für das er jahrelang als Korrespondent und bis vor kurzem als Kolumnist arbeitete. Es muss also schlimm stehen, wenn sogar der Telegraph die Regierung attackiert. „Fragen ohne Antworten“, monierte das Blatt und stimmte in den Chor der Kritiker ein, die im Zuge der Coronavirus-Krise im Vereinigten Königreich immer lauter werden. „Behebt sofort das Test-Fiasko“, forderte auch die Daily Mail in Großbuchstaben.
Der Druck auf den Premier, der mit milden Symptomen aus der Selbstisolation weiterregiert, wächst. Es ist zwei Wochen her, da kündigte Johnson an, täglich 25 000 Tests auf das Virus und Antikörper durchführen zu wollen. Doch noch immer wird nicht einmal die 10 000er Marke erreicht. Zum Vergleich: In Deutschland finden laut Angaben des Charité-Virologen Christian Drosten pro Woche rund 500 000 Tests statt. In Großbritannien gibt es stattdessen jeden Tag dieselben Versprechen, ohne dass diesen bislang Taten folgen. Dabei spitzt sich die Lage weiter zu. Bis Donnerstagmittag sind im Königreich 2921 mit dem Coronavirus infizierte Menschen gestorben, ein Anstieg um 569 im Vergleich zum Mittwoch.
Mehr Tests seien „der Weg durch“diese Krise, betonte Johnson am Mittwochabend abermals via Videobotschaft. Nur ist die Geduld der Bevölkerung mittlerweile aufgebraucht. Es herrschen Verunsicherung und Wut. Die Opposition beklagt, das schleppende Vorgehen beim Testen zeige „einen Mangel an Klarheit, wie der Plan aussieht und wie er ausgeführt werden wird”, so die Labour-Abgeordnete Shami Chakrabarti.
Unaufhörlich wird in Medien Deutschland als Vorbild angeführt. Warum sterben in der Bundesrepublik viel weniger Menschen an den Folgen der Coronavirus-Infektion als auf der Insel? Warum schaffen es die Deutschen, sieben Mal mehr zu testen? Die Minister liefern bislang unbefriedigende Ausreden, weshalb nicht mehr Mitarbeiter des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS getestet werden, schieben die mangelnden Kapazitäten etwa auf den krisenbedingt verlangsamten Import von notwendigen Chemikalien – eine Behauptung, die die heimische Chemieindustrie zurückgewiesen hat.
Derzeit sollen in Großbritannien Ärzte, Schwestern und Pfleger zuhause bleiben, wenn sie Symptome zeigen oder jemand im selben Haushalt erkrankt ist, auch wenn die Möglichkeit besteht, dass sie nur unter einer Erkältung leiden. Das führt zu einem brisanten Mangel an den dringend benötigten Fachkräften. Kliniken melden denn auch einen Krankenstand von bis zu 50 Prozent der Belegschaft, ein „beispielloses“Ausmaß, klagte ein NHS-Vertreter. Lediglich 2000 von rund einer halben Million Mitarbeiter im Gesundheitssektor in England seien seit dem Ausbruch der Pandemie getestet worden, gab Downing Street gestern zu.
Dabei steht der chronisch unterfinanzierte NHS, der aus Steuermitteln gespeist wird, schon jetzt kurz vor dem Kollaps. Auch das Problem der persönlichen Schutzausrüstung ist bei weitem nicht behoben. Noch immer fehlt es für das medizinische Personal an Mundschutz-Masken, an Brillen, Handschuhen und Kitteln, die den Standards der Weltgesundheitsorganisation entsprechen. „Patienten sterben. Mitarbeiter des Gesundheitssystems sterben. Es ist Zeit zu handeln“, forderten 10 000 NHS-Angestellte in einem verzweifelten Brandbrief an den Regierungschef.
Gerade erst erhielten die Briten ein Schreiben von Boris Johnson, in dem er sie aufforderte, zuhause zu bleiben, um „Leben zu retten“sowie „den NHS zu schützen“. Zudem warnte er: „Die Dinge werden schlechter, bevor sie wieder besser werden.“Etliche Briten fragen sich nun, wie schlimm die Krise im Königreich tatsächlich wird – und ob die Regierung diese bald in den Griff bekommt oder sie mit ihrem Vorgehen vielmehr verschlimmert.