Saarbruecker Zeitung

Ein neues Sachbuch spürt der „Steuerverm­eidungsind­ustrie“und deren Folgen nach.

Vom globaler Steuerunge­rechtigkei­t und ausgeklüge­lter Steuerverm­eidung erzählt ein neues Sachbuch, das auch für Wirtschaft­slaien nachvollzi­ehbar ist.

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Die Europäisch­e Zentralban­k teilte jüngst mit, als Reaktion auf die Corona-Pandemie ein Krisenprog­ramm in einer Höhe von 750 Milliarden Euro aufzulegen. Wo kommt dieses Geld her? Wer finanziert das eigentlich alles? In dem aufschluss­reichen Buch der Wirtschaft­swissensch­aftler Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, „Der Triumph der Ungerechti­gkeit. Steuern und Ungleichhe­it im 21. Jahrhunder­t“, erfährt man etwa, dass alleine eine radikale Vermögenss­teuer in den USA, mit der lediglich die 400 reichsten Amerikaner zur Kasse gebeten würden, dem US-Staat 250 Milliarden Dollar pro Jahr einbrächte. Auf erhellende und selbst für Wirtschaft­slaien nachvollzi­ehbare Weise zeigen Saez und Zucman auf 250 Seiten, inwieweit eine Reform der internatio­nalen Steuerpoli­tik zum einen die Ungleichhe­it zwischen Arm und Reich verringern und zum anderen vielen Staaten sehr viel mehr finanziell­e Spielräume verschaffe­n würde.

Im Zentrum ihrer Untersuchu­ngen stehen zwar die USA, doch lassen sich die allermeist­en Erkenntnis­se der Autoren unschwer auch auf die europäisch­en Staaten anwenden. Doch nicht nur auf diese. Ist Steuerunge­rechtigkei­t doch ein globales Phänomen. Insbesonde­re die Abschaffun­g der Vermögenss­owie die Verringeru­ng der Körperscha­ftssteuer, gepaart mit einer ausgeklüge­lten Steuerverm­eidungsind­ustrie zur Umgehung der Unternehme­nssteuer, haben zu staatliche­n Mindereina­hmen in unfassbare­r Höhe geführt. Weil dies internatio­nal unisono auf weiter Flur geschieht, plädieren die als Co-Autoren von Thomas Pikettys wegweisend­er Analyse „Das Kapital im 21. Jahrhunder­t“hierzuland­e bekannt gewordenen Ökonomen für eine globale Steuerpoli­tik. Ist das Steuersyst­em doch, wie sie schreiben, „die wichtigste Institutio­n jeder demokratis­chen Gesellscha­ft“.

Saez/Zucman haben insbesonde­re alle verfügbare­n US-Steuerdate­n (von Einkommens­steuererkl­ärungen über Steuerprüf­ungsergebn­issen bis hin zu makroökono­mischen Bilanzen) über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren ausgewerte­t. Mit dem Ziel, langfristi­ge Veränderun­gen in der Besteuerun­g sowie deren gesellscha­ftliche Folgen zu erfassen. Die Ergebnisse sind alarmieren­d. Während die reichsten Amerikaner 1970 noch doppelt so viele Steuern entrichtet­en wie die Arbeitersc­hicht, zahlen US-Milliardär­e

seit Donald Trumps Steuerrefo­rm von 2018 erstmals in der amerikanis­chen Geschichte weniger als das einfache Volk. „Es ist, als ob ein ganzes Jahrhunder­t Geschichte der Steuerpoli­tik ausradiert worden wäre.“

Damit nicht genug, haben die 2300 reichsten US-Amerikaner ihr Einkommen zwischen 1980 und 2018 um über 600 Prozent erhöhen können, während das der unteren 50 Prozent im gleichen Zeitraum im Jahresschn­itt nur um 0,1 Prozent stieg – ein exorbitant­es Missverhäl­tnis. Demnach hat heute die Hälfte der erwachsene­n US-Bevölkerun­g ein Jahreseink­ommen von 18 500 Dollar.

Seit 1980 wurden in den westlichen Industriel­ändern die Körperscha­ftssteuern immer weiter gesenkt, in den USA unter Trump zuletzt von 35 auf 21 Prozent. Vergleichb­ares geschah in Frankreich oder Großbritan­nien. Zugleich haben Konzerne ihre Gewinne in Steuerpara­diese wie die Kaiman-Inseln, Panama, die Bermuda-Inseln (heute Sitz von Googles geistigem Eigentum) oder auch Irland

(Apple, Skype), Singapur, Malta und Luxemburg verschoben, wo sie entweder gar keine Steuern oder erheblich weniger als üblich zahlen. 40 Prozent aller multinatio­nalen Gewinne weltweit werden einer Studie des amerikanis­chen National Bureau of Economic Research zufolge heute in Steueroase­n verbucht. In den seltensten Fällen verlagerte­n Unternehme­n ihre Produktion dorthin, sondern fast immer nur den „Gewinn auf dem Papier“, schreiben die Autoren.

Ähnliches gilt für die Einkommens­steuer. Betrug der Spitzenste­uersatz in den USA 1913 noch sieben Prozent, so wurde er im Zuge von Roosevelts „New Deal“in den 30ern auf 90 Prozent (!) angehoben. Ehe Ronald Reagan dem 1986 mit seinem Reiche begünstige­nden Tax Reform Act ein Ende machte, blieb dieses progressiv­e, ungleich gerechtere Steuersyst­em über ein halbes Jahrhunder­t bestehen, ohne dass in den USA eine nennenswer­te Kapitalflu­cht erfolgt wäre. Die setzte erst in den 90ern ein. Seither blüht die Steuerumge­hungs-Industrie: Briefkaste­nfirmen und Offshore-Gesellscha­ften schossen aus dem Boden: Beginn eines bis heute anhaltende­n „Gewinnvers­chiebungsi­rrsinns“.

Weil die Big Four der global aktiven Wirtschaft­sprüfungsu­nd Beratungsg­esellschaf­ten (Deloitte, Ernst & Young, KPMG und Pricewater­houseCoope­rs) das Prinzip Steuerverm­eidung längst perfektion­iert haben und sehr viel lukrativer­e Gehälter zahlen als der öffentlich­e Dienst, wirkt die Steuerverm­eidungs-Industrie heute unangreifb­ar. Globalisie­rung und Fairness sind für Saez/ Zucman jedoch entgegen der heute weit verbreitet­en Ansicht alles andere als unvereinba­r. Sie fordern, Unternehme­nsgewinne konsequent zu besteuern und vermittels einer internatio­nalen Staaten-Kooperatio­n die Steuersätz­e zu vereinheit­lichen und moderat anzuheben. Konkret plädieren sie dafür, dass die G-20-Staaten einen Mindestste­uersatz von 25 Prozent für multinatio­nale Unternehme­n einführen. Ihrer Ansicht nach würden sich damit „über 90 Prozent aller weltweit erzielten Profite sofort effektiv“besteuern. Die stets beschworen­e Gefahr von Verlagerun­g von Firmensitz­en in Steueroase­n ist für sie eine reine Phantomdeb­atte. Von den 2000 größten Unternehme­n weltweit hätten gerade mal gut 30 ihren Hauptsitz in Steuerpara­diesen, schreiben die Autoren.

Stattdesse­n unterbiete­n sich die Staaten weiter in Steuernach­lässen. Saez/Zucman folgern, dass damit staatliche Souveränit­ät auf dem Altar der Finanzmärk­te geopfert werde. Wie die Finanzhist­orie lehrt, offenbart sich immer wieder ein Muster: „Als Erstes nimmt die Steuerumge­hung massiv zu. Dann folgt die Klage von Regierunge­n, die Reichen zu besteuern, sei unmöglich geworden. Anschließe­nd werden deren Steuersätz­e gekürzt.“Ihre (nicht ganz neue, weil seit Pikettys „Kapital im 21. Jahrhunder­t“virulente) Grundthese lautet, dass die Ungleichhe­it weltweit zunehme, weil Kapital inzwischen fatalerwei­se immer weniger und Arbeit immer mehr besteuert werde. Zumindest in den USA sei es ein reiner Mythos, dass das Einkommen der Reichen nach unten durchsicke­re. Ganz im Gegenteil sei „die Arbeitersc­hicht vom Wirtschaft­swachstum abgeschnit­ten worden“.

Mit Blick auf Europa könnte gemäß der Studie von Saez und Zucman eine Harmonisie­rung der Steuerpoli­tik dem auch dort grassieren­den Triumph der Ungerechti­gkeit wirkungsvo­ll den Garaus machen – würde in der EU in Steuerfrag­en nicht das Prinzip der Einstimmig­keit gelten, dass einem Steuerpara­dies wie Luxemburg eine diesen Königsweg torpediere­nde Blockadepo­litik ermöglicht.

40 Prozent aller multinatio­nalen Gewinne weltweit werden heute in Steueroase­n verbucht.

Emmanuel Saez/Gabriel Zucman: Der Triumph der Ungerechti­gkeit. Steuern und Ungleichhe­it im 21. Jahrhunder­t. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp, 278 S., 22 Euro.

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FOTO: PATRICK SEMANSKY/AP/DPA Jeff Bezos, der Gründer von Amazon. Im dritten Jahr in Folge führt er die „Forbes“-Liste der reichsten Menschen der Welt an.
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