„Ich mache mir große Sorgen“
Der saarländische Ministerpräsident teilt die Kritik der Kanzlerin an zu schnellen Lockerungen in einigen Bundesländern.
In der Corona-Krise hat Bundeskanzlerin Angela Merkel zuletzt deutliche Worte gewählt und unter anderem von „Öffnungsdebattenorgien“gesprochen. Auch Saar-Ministerpräsident Tobias Hans ist der Meinung, dass einige Länder ihre Maßnahmen zu schnell lockern – und nennt dabei im Gespräch mit unserer Zeitung sein Nachbarland Rheinland-Pfalz.
Herr Hans, die Kanzlerin sagt, die Umsetzung der Lockerungen der Corona-Maßnahmen seien in den Bundesländern teilweise zu forsch angegangen worden. Stimmt das?
HANS Ich unterstütze das, was die Kanzlerin sagt. Ich hätte mir gewünscht, dass wir alle zusammen noch eine Woche länger durchgehalten hätten, bis überall die Osterferien vorbei sind. Ich finde es konsequent, wie es Markus Söder in Bayern gemacht hat: Bis zum 26. April alles geschlossen lassen und dann mit Mundschutzpflicht die ersten Öffnungen angehen. Das wäre mir bundesweit lieber gewesen. Aber gerade als kleineres Bundesland muss man immer darauf reagieren, wie sich die Nachbarländer verhalten und sich möglichst abstimmen.
Welches Beispiel ärgert Sie da?
HANS In Rheinland-Pfalz steht an der Grenze zum Saarland Europas größtes Designer-Outlet-Center, das seit dem 20. April wieder öffnen darf, entgegen der Beschlüsse der MPK mit der Kanzlerin. Das ist ein völlig falsches Signal. Großeltern dürfen ihre Enkel nicht sehen, aber in ein Designergeschäft zum Einkaufen gehen. Ein Fehlanreiz. Und es befördert das Gefühl der Ungerechtigkeit.
Was befürchten Sie?
HANS Ich mache mir große Sorgen, dass wir das Rad zurückdrehen müssen, wenn die Infektionszahlen wieder steigen. Dann müsste es einen zweiten Lockdown geben, der mit Sicherheit
schärfer wird als der erste. Wir müssen alles daran setzen, das zu verhindern. Wir müssen an die Geduld und Vernunft der Menschen appellieren.
Oder an die Geduld von Ministerpräsidenten? Merkel hatte in einer CDU-Schalte „Öffnungsdiskussionsorgien“beklagt. Steht ihr das zu, oder meinte sie gar nicht die Bürger, sondern CDU-Politiker, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet vielleicht?
HANS Es muss möglich sein, intern auch mal Tacheles zu reden. Ich habe nicht erlebt, dass die Bevölkerung in einem großen Ausmaß nach Lockerungen gerufen hat. Es ist ein schmaler Grat, die berechtigten Interessen der Wirtschaft und die Gesundheit der Menschen gegeneinander abzuwägen. Politiker dürfen sich angesichts der Forderungen aus Wirtschaft, Einzelhandel und Gastronomie nicht wegducken. Angela Merkel versteckt sich nicht. Die Politik muss der Gesellschaft den Rahmen geben, sich zu schützen. Es ist klug, in kleinen Schritten vorzugehen. Wir stehen erst am Anfang der Krise und deswegen bin ich für restriktive Maßnahmen und damit an der Seite der Kanzlerin.
Nehmen Sie wie SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil einen „Hahnenkampf“zwischen den Ministerpräsidenten aus NRW und Bayern, Laschet und Markus Söder, wahr, oder ist das das ganz normale Ringen um die Kanzlerkandidatur?
HANS Nein, das ist Quatsch. Die Menschen haben kein Verständnis dafür, dass sich die Parteien streiten. Sie wollen gute Sacharbeit sehen. Diese wird in der großen Koalition im Bund und in den Ländern jetzt auch geleistet. Und die Frage, wer der nächste CDU-Parteivorsitzende oder Kanzlerkandidat der Union wird, spielt derzeit keine Rolle.
Welche Lehre müssen die Ministerpräsidenten aus dem jetzt bestehenden Flickenteppich am 30. April ziehen, wenn sie wieder mit der Kanzlerin über die nächsten Schritte beraten?
HANS Der Föderalismus ist ein hohes Gut. Die Länder sind unterschiedlich stark von der Corona-Infektion betroffen, deshalb haben sie auch unterschiedliche Bedürfnisse. Da kann nichts aus Berlin zentral angeordnet werden. Es muss aber eine Vergleichbarkeit der Maßnahmen geben. Ich wünsche mir, dass wir das nächste Mal die grundsätzlich vereinbarten Schritte gemeinsam einhalten und unterschiedliche Herangehensweise vorher transparent machen. Jeder Verein hat eine WhatsApp-Gruppe, über die die Mitglieder kommunizieren. Das sollten auch die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten können. Es ist unschön, wie es bei der Maskenpflicht gelaufen ist. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass der Appell zum Tragen einer Maske nicht ausreicht. Da hätten wir gleichzeitig die Einführung der Pflicht verkünden können statt tröpfchenweise nachzuziehen.
Können die Menschen auf weitere Lockerungen ab 4. Mai hoffen?
HANS Ich mache mir eher Sorgen, dass wir Ende April feststellen, dass wir wieder weiter in die Krise reingerutscht sind.
Ein Rückschritt zur Verschärfung der Maßnahmen wäre unpopulär.
HANS Noch unpopulärer wäre es, wenn die Infektionsrate wieder steigt, es dann viele Tote gibt und das Gesundheitssystem überfordert wird.
Was werden Sie fordern, damit es besser läuft?
HANS Ich bin für eine einheitliche Herangehensweise bei den Kriterien und für klare Definitionen, etwa wie viele Personen sich pro Quadratmeter Verkaufsfläche in einem Geschäft aufhalten dürfen. Im Saarland gilt: ein Kunde pro 20 Quadratmeter. Bei dieser Regelung bräuchten wir auch keine zusätzliche 800-Quadratmeter-Regel, die sehr unterschiedlich ausgelegt wird und zu einer hohen Anzahl von Kunden in den Geschäften führen kann. Das ist nicht gut. Ich werde das in der Ministerpräsidentenkonferenz Ende April vorschlagen.
Bis Mitte nächster Woche wollen die Kultusminister ein Konzept für Unterricht in Corona-Zeiten vorlegen. Sollte das einheitlich umgesetzt werden?
HANS So einheitlich wie möglich. Es ist gut, dass die Bundesregierung bedürftigen Schülern bei der Anschaffung von digitalen Geräten finanziell hilft. Darauf müssen wir aufbauen. Und es darf keinen Flickenteppich geben, welche Schüler Masken tragen müssen und welche nicht.
Wegen der geschlossenen Grenzen kommt es zwischen Deutschland und Frankreich zu Unmut in den Bevölkerungen. Belastet die Corona-Krise das Verhältnis zum Nachbarland?
HANS Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen. Nicht Länder übertragen das Virus, sondern Menschen, Familien, Freunde. Wir müssen über die Grenze hinweg gemeinsam handeln. Wir haben Covid-19-Patienten aus Frankreich in unseren Krankenhäusern aufgenommen. Wir werden mit dem Nachbardepartement gemeinsam Masken anschaffen. Bei einer weiteren Pandemie muss es künftig schlichtweg unnötig werden, Grenzen dicht zu machen. Familien dürfen nicht getrennt werden.
Wie lange wird der Grenzverkehr noch beschränkt bleiben?
HANS Keinen Tag länger als unbedingt nötig. Wie alle Einschränkungen. Wir fahren auf Sicht.
Also bleiben die Regierungen auf unbestimmte Zeit im Krisenmodus?
HANS Diese Legislaturperiode wird bis zum Schluss von Krisenmanagement
geprägt sein – jetzt in der Anfangsphase der Corona-Pandemie und dann bei der Bewältigung der Folgen für die Wirtschaft. Und zugleich dürfen wir auf gar keinen Fall einen Rückschritt bei der Bekämpfung der Klimakrise machen. Ähnlich wie Corona, ist auch die derzeitige Trockenheit ein Weckruf, ein Weckruf der Natur, nicht weiter hemmungslos CO2 in die Luft zu blasen. Wir müssen einen ökologischen Ansatz finden, um unsere Soziale Marktwirtschaft umzugestalten.
Sie könnten zum Beispiel nur jenen Unternehmen Staatshilfe gewähren, die Klimaneutralität anstreben.
HANS Ich plädiere sehr dafür, bei unseren Hilfsmaßnahmen für die Firmen in der Corona-Krise ökologische Komponenten einzuführen. Eine unkonditionierte Abwrackprämie für Autos, die nicht an die Beschaffung eines E- oder Hybridautos gekoppelt ist, wie nach der letzten Wirtschaftsund Finanzkrise, ist heute nicht mehr denkbar.