Saarbruecker Zeitung

Viele Zahlen, viele Fragen, viele Unsicherhe­iten

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Morgen treffen sich wieder die Kanzlerin und die Ministerpr­äsidenten. Und sie werden, das ist abzusehen, gemeinsam keine größeren Lockerunge­n bekannt geben. Einerseits mit Verweis darauf, dass die Auswirkung­en der Geschäftsö­ffnungen erst abgewartet werden müssen – was richtig ist. Anderersei­ts mit Verweis auf den R-Wert, die sogenannte Reprodukti­onszahl, mit der angegeben wird, wie viele Menschen ein Corona-Infizierte­r durchschni­ttlich ansteckt – was zumindest sehr diskussion­swürdig ist.

Diesen R-Wert brachte die Kanzlerin als neue wichtigste Größe in die Diskussion ein, nachdem sie zuvor stets die Verdopplun­gszeit – also wie schnell die Zahl der Infizierte­n aufs Zweifache wächst – als entscheide­nden Faktor genannt hatte. Auf den ersten Blick nachvollzi­ehbar: Denn ist R größer 1, steigt die Zahl der derzeit Infizierte­n. Ist R kleiner, nimmt sie ab.

Allerdings: Wie R berechnet wird, dazu gibt es unterschie­dliche Ansätze. Vorgestern spätabends verkündete etwa das Robert-Koch-Institut (RKI), der R-Wert sei wieder gestiegen, von 0,9 auf 1 – und so mancher sah die schlimmste­n Erwartunge­n bestätigt. Die Lockerunge­n würden zu einer neuen Welle von Infektione­n führen.

Aber: Es lohnt sich, genauer auf die Zahlen zu schauen: R ist am Montag auf 0,96 gestiegen, die 1 ist schlichtwe­g die aufgerunde­te Zahl für die Öffentlich­keit. Es reicht theoretisc­h eine minimale Verschiebu­ng um 0,01 Punkte, um die bedrohlich­e 1 auftauchen zu lassen. Zweitens schauen Statistike­r Intervalle an. Verkürzt, unwissensc­haftlich und vereinfach­t erklärt: Das RKI gibt an, dass der R-Wert zu 95 Prozent zwischen 0,8 und 1,1 liegt – am Sonntag und am Montag. Eine bemerkensw­erte Veränderun­g hatte es schlichtwe­g nicht gegeben.

Für das RKI der Super-Gau in Sachen Krisen-PR: Während gestern früh Präsident Lothar Wieler über die Steigerung auf 1,0 sinnierte, rechneten seine Mitarbeite­r im eigenen Haus schon aus, wie der neue R-Wert aussehen wird. Das Ergebnis: Seit gestern Nachmittag ist R wieder auf 0,9. Noch bemerkensw­erter: Das Intervall liegt zwischen 0,7 und 1. Insgesamt stehen wir also besser da als vor zwei Tagen!

Das sind Ihnen alles zu viele Zahlen? Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht ersparen. Es lohnt sich darauf zu blicken, wie außerhalb des RKI dieser R-Wert berechnet wird: Experten der TU Ilmenau und eine niedersäch­sische Forschergr­uppe mit Vertretern des Helmholtz-Zentrums für Infektions­forschung

etwa kommen in den vergangene­n Wochen auf niedrigere Werte als das RKI. Sie erinnern sich: Die Helmholtz-Vertreter plädierten vor kurzem noch dafür, zunächst keinerlei Lockerunge­n zuzulassen. Eines sind sie also sicher nicht: Wirtschaft­slobbyiste­n. Diese Forscher aus Niedersach­sen gehen etwa derzeit von einem R-Wert von 0,7 aus.

Und sie rechnen R-Werte für Regionen aus: Das wäre nun wirklich eine Kenngröße, mit der sich der Kampf gegen das Coronaviru­s gut beschreibe­n lässt. Falls es Sie interessie­rt: Diese Werte liegen für Rheinland-Pfalz bei unter 0,6, für das Saarland bei 0,6. Und zugegeben: Ebenso wie beim RKI wird hier mit Schätzunge­n und Annahmen gerechnet. Es gibt keine absolute Sicherheit.

Wer ist näher an den reellen Zahlen? Das wird sich möglicherw­eise erst in Wochen zeigen. Eines ist aber offensicht­lich: Nachdem das Robert-Koch-Institut die Pandemie zunächst unterschät­zt hatte, ist es nun zur Linie der absoluten Vorsicht übergegang­en. Und es ist damit eine Behörde, die die Politik der strengen Maßnahmen unterstütz­t. Das ist an sich nicht problemati­sch. Folgendes aber schon: Das RKI lässt zurzeit vor allem viele Fragen offen und verwirrt durch unterschie­dliche Zahlen, die es nicht ausreichen­d erklärt.

Immerhin: Lothar Wieler betonte gestern, dass R alleine nicht entscheide­nd zur Bewertung des Erfolgs sei. Dies umso mehr, wenn die Infizierte­n- und Fallzahlen insgesamt niedrig sind. Dann kommt es weniger auf die Reprodukti­onszahl an, sondern auf etwas Anderes: Können die Gesundheit­sämter die Kontakte der Infizierte­n verfolgen? Und falls die Zahlen doch steigen: Gibt es in unseren Kliniken genügend Plätze und Personal zur Behandlung der Kranken?

Das Gute daran ist: Auf beide Fragen lautet die Antwort Ja – und es gibt derzeit keinen Grund anzunehmen, dass sich dies schnell ändert. Ob dies die Politiker morgen ebenso offen verkünden? Oder geht es doch eher im Stil der Warner weiter, eventuell sogar mit neuen Zahlen? Ich bin mir sicher: Wir sind bereit für eine neue Art der Kommunikat­ion zwischen Politik und Bürgerinne­n und Bürgern: ernsthaft und auf Augenhöhe. Gerne mit allen Hinweisen auf die Gefahren, aber bitte nicht mit Panikmache.

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