Leben ist nicht alles
Die Aussagen zu Grundrechten in der Corona-Krise von Bundestagspräsident Schäuble sind zwar wahr. Für Politiker wie ihn sind sie dennoch heikel.
Der Dogmatik der Grundrechte begegnet in der Regel nur, wer sich für ein Studium der Rechtswissenschaften entscheidet. Jurastudenten lernen etwas von Schutzbereichen, von Abwehrrechten, von der Verhältnismäßigkeit. Das klingt technisch, aber in den Grundrechten steckt, nicht nur bildlich, Leben. Nun, da Deutschland seit mehr als einem Monat mit Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverboten kämpft, ist zu beobachten, was es sehr lange nicht gab, vielleicht noch nie. Es ist eine öffentliche Debatte über Funktionsweisen und Geltungsbereiche von Grundrechten entbrannt. Auch eine erstaunliche Erkenntnis dieser Tage: Das Land lernt Verfassungsrecht.
Es werden Fragen erörtert: Ist das Recht zu Demonstrieren nicht elementar? Muss nicht die Religionsausübung gewährleistet werden? Darf der Staat einfach so verfügen, dass ich zu Hause bleiben muss? Dem Tagesspiegel sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) jetzt, das Grundrecht auf Leben gelte nicht absolut. Es müsse nicht alles vor dem Schutz von Leben zurücktreten. Er hat damit einen Aufschrei produziert, vermutlich wusste er das. Dabei hat Schäuble lediglich eine banale Erkenntnis mitgeteilt.
Grundrechte sind im Grundsatz Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Sie sind in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes aufgeführt: Berufsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, auch
Pressefreiheit. In einer Gemeinschaft aber kann nicht jeder nur tun, was er will, weshalb sich die Gesellschaft Regeln auferlegt. Und mit diesen Regeln dürfen fast alle Grundrechte mit Augenmaß eingeschränkt werden.
Für das Grundrecht auf Leben gilt das auch. In Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes
eingegriffen werden.“Der letzte Satz ist der sogenannte Gesetzesvorbehalt. Der Staat darf das Grundrecht nur einschränken, wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz dies erlaubt.
Ein berühmter Fall findet sich im Polizeirecht. In den Polizeigesetzen der meisten Bundesländer etwa ist der finale Rettungsschuss geregelt. Zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder einer schwerwiegenden Verletzung dürfen Polizisten in Ausnahmefällen einen tödlich wirkenden Schuss einsetzen. Der Staat schränkt das Grundrecht auf Leben ein, indem er es dem Angreifer nimmt.
Für die Corona-Pandemie hilft das Beispiel nur bedingt weiter, weil nicht der Staat das Leben nimmt, sondern eine Krankheit. Dass aber zahlreiche Grundrechte eingeschränkt sind, wird auch mit Artikel 2 begründet. Darin findet sich nämlich eine staatliche Schutzpflicht zugunsten des Lebens und zugunsten der Gesundheit.
Und trotzdem gibt es keine Rangliste der Grundrechte. Es steht nicht auf Platz eins das Leben, auf Platz zwei die Meinungsfreiheit... Klar ist, dass Artikel 1 uneingeschränkt gilt. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie gilt als einziges Grundrecht absolut. Alle anderen Grundrechte müssen im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden.
Politiker in Staatsämtern wie Schäuble oder NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) wären trotzdem besser beraten, ihre Worte sorgfältiger zu wählen. In keinem Fall darf der Eindruck entstehen, dass der Staat das Recht auf Leben nicht ernst genug nimmt. Auch wenn Schäuble und Laschet Juristen sind; den Bürgern sind sie verpflichtet, ihre lapidaren Ausführungen zu erklären. Zudem müssen sie beachten, dass eine Schutzpflicht nicht abstrakt ist, sondern konkrete Auswirkungen hat. So könnte man argumentieren, dass der Staat verpflichtet sein könnte, Bürgern Masken zur Verfügung zu stellen, um die Gesundheit zu sichern. Das Grundrecht auf Leben darf nicht auf dem Altar der parteipolitischen Profilierung geopfert werden.
Für die Verfassungsrechtsstudenten: Für die Schutzpflicht des Staates gilt außerdem das sogenannte Untermaßverbot. Das bedeutet, das Grundrecht auf Leben kann nicht nur zu hoch, sondern auch zu niedrig gehängt werden.