Watschen für den Ministerpräsidenten
Wie die Verfassungsrichter die bisherige Corona-Verordnung der Saar-Regierung zerpflückt haben.
Das Unheil kam für die Landesregierung mit Ankündigung. Schon anderthalb Wochen vor dem vernichtenden Beschluss des Verfassungsgerichtshofes zur saarländischen Corona-Verordnung machte der Vorsitzende Richter Roland Rixecker im SR2-Interview ziemlich deutlich, wohin die Reise gehen könnte: „Die Not, die kein Gebot kennt, darf sicher nicht endlos dauern, sondern wir müssen immer neu nachjustieren“, sagte Rixecker am 18. April. „Das geschieht ja auch. Ob es schon mit der nötigen Differenzierung geschieht, das weiß ich nicht.“Und dann fragte er, damals noch rhetorisch: „Ist das, was gemacht worden ist, wirklich alles so geeignet oder notwendig? Man kann nicht alles uneingeschränkt verbieten, sondern man muss die Verhältnismäßigkeit wahren.“
Die Frage, die Rixecker in dem Interview stellte, haben die Richter am Dienstag in aller Deutlichkeit mit Nein beantwortet. Und dabei heftige Watschen verteilt. In dem 18-seitigen Beschluss zerpflückten sie die Corona-Rechtsverordnung der Landesregierung regelrecht und entschärften sie an entscheidenden Stellen (siehe Text unten) mit sofortiger Wirkung. Weitgehend aufgehoben werden die Ausgangsbeschränkungen, nach der die Saarländer ihre Wohnung nur aus klar definierten „triftigen Gründen“verlassen dürfen.
Erst kurz vor dem Urteil am Dienstag kündigte die Landesregierung an, ab kommendem Montag von diesem Prinzip abrücken zu wollen. Zuvor jedoch hatte die Landesregierung lange daran festgehalten. Auch nachdem sich Bund und Länder am 15. April etwa auf die Wiedereröffnung zahlreicher Geschäfte einigten. Am selben Abend verkündete Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) gemeinsam mit Vize-Regierungschefin Anke Rehlinger (SPD) die Verlängerung der seit dem 21. März geltenden Ausgangsbeschränkungen im Saarland bis zum 3. Mai. Die Verfassungsrichter rügten nun in ihrem Beschluss daraus entstehende Absurditäten: „Es ist nicht zu erklären, warum ein beliebiges ‚freies Verlassen‘ der eigenen Wohnung ohne Ziel (oder mit dem
Ziel, Verwandte zu besuchen) verboten wird, während es mit dem Ziel, ein Ladengeschäft ‚aufzusuchen‘ – ohne einen zur Deckung des Lebensbedarfs notwendigen Kauf anzustreben – erlaubt wird.“Auch sei unklar, „warum ein triftiger Grund zum Verlassen der Wohnung zum Sport oder ‚zur Bewegung im Freien‘ angenommen wird, Menschen, die sich im Freien jedoch nicht bewegen, sondern in gebührendem Abstand von jedwedem Anderen – als Einzelner auf einer Bank in der Sonne – verharren wollen, ordnungswidrig oder gar strafbar handeln“.
„Unzumutbar“war aus Sicht der Richter, dass man nach Verlassen des Hauses im Zweifel einen triftigen Grund dafür glaubhaft machen musste: „Ungeachtet der von der Verordnung nicht näher geregelten Frage, welche Mittel der Glaubhaftmachung zulässig, aber auch ausreichend sind, muss der Bürger die Wahrnehmung elementarer Grundrechte jederzeit – vergleichbar einer Umkehr der Beweislast – rechtfertigen. Eine derartige Regelung ist nicht ohne weiteres zumutbar.“Und es gebe sie inzwischen außer im Saarland nur noch in Bayern.
Warum für Saarländer strengere Regeln galten als für die meisten übrigen Bundesbürger, hat die Landesregierung nach Auffassung der Richter nicht plausibel begründet. Hans hatte darauf verwiesen, dass das Saarland besonders hohe Infektionszahlen aufweise. Doch das reichte dem Gericht nicht: Im Beschluss führte es die Neuinfektionszahlen mehrerer anderer Bundesländer ohne Ausgangsbeschränkungen auf – unter anderem das ähnlich stark betroffene Grenzland Baden-Württemberg. In diesen Ländern sei es „weder zu einer exponentiellen Ausbreitung des Infektionsgeschehens, noch zu einer Überlastung des Gesundheitssystems gekommen“. Fazit des Gerichts: „Die Betrachtung der Infektions- und Sterberaten in den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkungen zeigt keine belastbaren Gründe für die Notwendigkeit der Fortdauer der saarländischen Regelung.“
Ganz grundsätzlich gaben die Richter der Landesregierung mit auf den Weg, dass solch schwerwiegenden Grundrechtseingriffe wie
„Die Not, die kein Gebot kennt, darf sicher nicht endlos
dauern.“
Roland Rixecker
Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes
die Ausgangsbeschränkungen „einer begleitenden Rechtfertigungskontrolle“bedürfen: „Je länger sie wirken, desto höher müssen die Anforderungen an ihre Rechtfertigung – und an ihre Kohärenz mit anderen Regelungen – sein.“Insofern waren die harten Maßnahmen nach Auffassung der Richter in der Anfangsphase der Pandemie vertretbar, als man über wenige wissenschaftliche Erkenntnisse
verfügte und die Infektionszahlen explodierten. Inzwischen seien sie es nicht mehr.
Hans, bisher ein vehementer Verfechter der Ausgangsbeschränkungen, wandte sich am Abend nach dem Urteil per Videobotschaft an die Saarländer. Darin betonte er, den Beschluss zu akzeptieren und betonte die bisherigen Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie. Zugleich empfahl er, die neuen Freiheiten nur eingeschränkt zu nutzen und auf Familienbesuche zu verzichten: „Versuchen Sie, Kontakte zu Personen außerhalb des eigenen Hausstands wenn es irgendwie möglich ist zu vermeiden.“Er warnte: „Setzen Sie unseren großen Erfolg bitte nicht aufs Spiel!“Es liegt jetzt wieder mehr in der Hand jedes Einzelnen, dem Aufruf zu folgen – oder auch nicht.