Rüffel für die Europäische Zentralbank
Das Karlsruher Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der EZB beanstandet.
(dpa) Im Dauer-Krisenmodus pumpt die Europäische Zentralbank viele Milliarden Euro in die Märkte. Jahrelang haben die Verfassungsrichter in Karlsruhe zähneknirschend zugeschaut. Jetzt setzen sie ein Ausrufezeichen. Für die Europäische Zentralbank (EZB) ist es ein Schuss vor den Bug, für das höchste Gericht der EU ein Affront. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der Notenbank – und wischt damit ein Urteil aus Luxemburg vom Tisch. Was das Karlsruher Urteil
(Az.: 2 BvR 859/15 u.a.) bedeutet, erläutern wir in Frage- und Antwortform.
Um welche Anleihenkäufe geht es? Zwischen März 2015 und Ende 2018 hat die EZB unter ihrem damaligen Präsidenten Mario Draghi rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere investiert – den allergrößten Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme), um das es in Karlsruhe ging. Kurz vor Ende seiner Amtszeit setzte Draghi
eine Neuauflage durch: Seit dem 1. November 2019 erwirbt die EZB wieder regelmäßig Wertpapiere von Staaten, zunächst in vergleichsweise geringem monatlichen Umfang von 20 Milliarden Euro. Die Zentralbank kauft die Anleihen nicht direkt bei den Staaten, sondern auf dem Sekundärmarkt – also etwa von Banken.
Warum kauft die EZB überhaupt Wertpapiere? Hauptziel ist ein ausgewogenes Preisniveau. Das sieht die EZB am ehesten gewährleistet, wenn die Preise im Euroraum mit seinen 19 Ländern moderat steigen. Mittelfristig wird eine Teuerungsrate unter zwei Prozent angestrebt. Denn wenn die Preise stagnieren oder fallen, kann das Verbraucher und Unternehmen verleiten, Investitionen aufzuschieben. Das kann die Konjunktur bremsen. Über Anleihenkäufe kommt viel Geld in Umlauf, was normalerweise die Inflation anheizt.
Kann ein deutsches Gericht der EZB überhaupt etwas vorschreiben? Das ist ein wunder Punkt. Denn die 1998 gegründete Notenbank ist unabhängig. Das Bundesverfassungsgericht kann nur deutsche Staatsorgane verpflichten. Im äußersten Fall könnten die Richter der Bundesbank die weitere Beteiligung an den Käufen untersagen. Auf dieses scharfe Schwert verzichtet der Senat. Drei Monate lang darf alles weiterlaufen. In dieser Zeit soll die Notenbank das Programm nachträglich auf seine Verhältnismäßigkeit prüfen. Bundesregierung und
Bundestag sind in der Pflicht, das anzustoßen.
Warum birgt das Urteil trotzdem Sprengstoff?
Die EZB greife unter dem Deckmantel der Geldpolitik in die Wirtschaftspolitik ein – mit erheblichen Auswirkungen „auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die als Aktionäre,
Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen sind“, wie es Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle ausdrückt. Und mit jeder weiteren Verlängerung des Kaufprogramms sieht sein Zweiter Senat die Probleme wachsen. Die Verfassungsrichter stört vor allem, dass sich die Notenbank mit diesen Folgen nach ihrem Eindruck nicht ausreichend auseinandersetzt.
Warum ist das Urteil eine Kampfansage Richtung Luxemburg?
Über die Einhaltung der EU-Verträge wacht eigentlich der Europäische Gerichtshof (EuGH). Dort hatten die deutschen Verfassungsrichter mit ihren Bedenken nicht durchdringen können: Der EuGH erteilte den Staatsanleihenkäufen Ende 2018 recht pauschal seinen Segen. Über diese Vorabentscheidung setzt sich Karlsruhe mit harschen Worten („objektiv willkürlich“, „methodisch nicht mehr vertretbar“) nun einfach hinweg — und entscheidet stattdessen selbst. Das hatten sich die deutschen Richter zwar immer vorbehalten. Dass sie nun zum ersten Mal Ernst machen, gleich trotzdem einem Aufstand.
Der EZB wird vorgeworfen, in die Wirtschaftspolitik
einzugreifen.