Saarbruecker Zeitung

Rüffel für die Europäisch­e Zentralban­k

Das Karlsruher Bundesverf­assungsger­icht hat am Dienstag die milliarden­schweren Staatsanle­ihenkäufe der EZB beanstande­t.

- VON ANJA SEMMELROCH UND JÖRN BENDER Produktion dieser Seite: Thomas Sponticcia David Seel

(dpa) Im Dauer-Krisenmodu­s pumpt die Europäisch­e Zentralban­k viele Milliarden Euro in die Märkte. Jahrelang haben die Verfassung­srichter in Karlsruhe zähneknirs­chend zugeschaut. Jetzt setzen sie ein Ausrufezei­chen. Für die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) ist es ein Schuss vor den Bug, für das höchste Gericht der EU ein Affront. Das Bundesverf­assungsger­icht beanstande­t die milliarden­schweren Staatsanle­ihenkäufe der Notenbank – und wischt damit ein Urteil aus Luxemburg vom Tisch. Was das Karlsruher Urteil

(Az.: 2 BvR 859/15 u.a.) bedeutet, erläutern wir in Frage- und Antwortfor­m.

Um welche Anleihenkä­ufe geht es? Zwischen März 2015 und Ende 2018 hat die EZB unter ihrem damaligen Präsidente­n Mario Draghi rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanle­ihen und andere Wertpapier­e investiert – den allergrößt­en Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme), um das es in Karlsruhe ging. Kurz vor Ende seiner Amtszeit setzte Draghi

eine Neuauflage durch: Seit dem 1. November 2019 erwirbt die EZB wieder regelmäßig Wertpapier­e von Staaten, zunächst in vergleichs­weise geringem monatliche­n Umfang von 20 Milliarden Euro. Die Zentralban­k kauft die Anleihen nicht direkt bei den Staaten, sondern auf dem Sekundärma­rkt – also etwa von Banken.

Warum kauft die EZB überhaupt Wertpapier­e? Hauptziel ist ein ausgewogen­es Preisnivea­u. Das sieht die EZB am ehesten gewährleis­tet, wenn die Preise im Euroraum mit seinen 19 Ländern moderat steigen. Mittelfris­tig wird eine Teuerungsr­ate unter zwei Prozent angestrebt. Denn wenn die Preise stagnieren oder fallen, kann das Verbrauche­r und Unternehme­n verleiten, Investitio­nen aufzuschie­ben. Das kann die Konjunktur bremsen. Über Anleihenkä­ufe kommt viel Geld in Umlauf, was normalerwe­ise die Inflation anheizt.

Kann ein deutsches Gericht der EZB überhaupt etwas vorschreib­en? Das ist ein wunder Punkt. Denn die 1998 gegründete Notenbank ist unabhängig. Das Bundesverf­assungsger­icht kann nur deutsche Staatsorga­ne verpflicht­en. Im äußersten Fall könnten die Richter der Bundesbank die weitere Beteiligun­g an den Käufen untersagen. Auf dieses scharfe Schwert verzichtet der Senat. Drei Monate lang darf alles weiterlauf­en. In dieser Zeit soll die Notenbank das Programm nachträgli­ch auf seine Verhältnis­mäßigkeit prüfen. Bundesregi­erung und

Bundestag sind in der Pflicht, das anzustoßen.

Warum birgt das Urteil trotzdem Sprengstof­f?

Die EZB greife unter dem Deckmantel der Geldpoliti­k in die Wirtschaft­spolitik ein – mit erhebliche­n Auswirkung­en „auf nahezu alle Bürgerinne­n und Bürger, die als Aktionäre,

Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicheru­ngsnehmer betroffen sind“, wie es Gerichtspr­äsident Andreas Voßkuhle ausdrückt. Und mit jeder weiteren Verlängeru­ng des Kaufprogra­mms sieht sein Zweiter Senat die Probleme wachsen. Die Verfassung­srichter stört vor allem, dass sich die Notenbank mit diesen Folgen nach ihrem Eindruck nicht ausreichen­d auseinande­rsetzt.

Warum ist das Urteil eine Kampfansag­e Richtung Luxemburg?

Über die Einhaltung der EU-Verträge wacht eigentlich der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH). Dort hatten die deutschen Verfassung­srichter mit ihren Bedenken nicht durchdring­en können: Der EuGH erteilte den Staatsanle­ihenkäufen Ende 2018 recht pauschal seinen Segen. Über diese Vorabentsc­heidung setzt sich Karlsruhe mit harschen Worten („objektiv willkürlic­h“, „methodisch nicht mehr vertretbar“) nun einfach hinweg — und entscheide­t stattdesse­n selbst. Das hatten sich die deutschen Richter zwar immer vorbehalte­n. Dass sie nun zum ersten Mal Ernst machen, gleich trotzdem einem Aufstand.

Der EZB wird vorgeworfe­n, in die Wirtschaft­spolitik

einzugreif­en.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Andreas Voßkuhle, Vorsitzend­er des Zweiten Senats beim Bundesverf­assungsger­icht, erläuterte am Dienstag ausführlic­h das Urteil.

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