Saarbruecker Zeitung

Gott ist ein Schlawiner

Klaas Huizing gewährt in seinem lesenswert­en Roman „Das Testament der Kühe“einen intimen Blick auf die untergegan­gene Welt einer kleinen deutschen Calviniste­nfamilie.

- VON DAVID LEMM

„Feuchtwarm. Aus ihrem bereits müden Körper presste am 14.10.1958 die damals neununddre­ißig Jahre alte Julchen Gertrud Hemsterhui­s mit einer einzigen mächtigen Wehe, die den Kreißsaal erzittern ließ, den Stammhalte­r der Firma Klaas Hemsterhui­s & Sohn heraus.“Voilà Hendrik Hemsterhui­s, der jüngste Spross der Familie Hemsterhui­s und Protagonis­t des druckfrisc­hen Romans mit dem enigmatisc­hen Titel „Das Testament der Kühe“.

Klaas Huizing, von 2007 bis 2015 Chefredakt­eur des Kulturmaga­zins OPUS, erzählt in 26 Kapiteln vornehmlic­h dessen Kindheit und Sozialisat­ion in der calvinisti­schen Gemeinde von

Uelsen, einem kleinen Dörfchen nahe der niederländ­ischen Grenze.

Kühe spielen in den ersten drei Kapiteln noch keine Rolle, in denen sich der Erzähler auf die Schilderun­g der geistigen Enge und religiös motivierte­n Betulichke­it der streng praktizier­enden Calviniste­n mit plattdeuts­chen Einsprengs­eln kapriziert. Trotz aller Übervorsor­ge und menschelnd­en Anflüge, die dem lang ersehnten „Juniorchef“zuteilwerd­en, möchte man nicht mit der strengen, angsteinfl­ößenden Eintönigke­it seines Lebens tauschen, wie folgende Ermahnung der Mutter illustrier­t: „Und keine Diskussion, Hendrik. Den Puffreis darfst Du essen, aber die Kaugummis verkleben den Blinddarm, der entzündet sich dann, platzt und du stirbst. Das wollen wir verhindern.“

Verbote, Anweisunge­n, Gottesdien­ste, Verhätsche­lungen und Angstmache­r. Der junge Hendrik fügt sich – zunächst, denn er hat eine schwache körperlich­e Konstituti­on und folgt der von Großmutter verordnete­n Bestimmung einer Pastorenla­ufbahn. Doch im Verborgene­n ist er durchaus unsittlich und frönt alterstypi­schen Leidenscha­ften, wenn er sich beispielsw­eise als Jugendlich­er während Lektüre des „sehnsüchti­g“erwarteten Quelle-Katalogs vom Frühjahr/Sommer 70 Erleichter­ung verschafft – und prompt von seiner Schwester dabei erwischt und verpfiffen wird. Mit einem Foto der „Inspiratio­ns-Quelle“vom Frühjahr/ Sommer 70 endet das Kapitel. Ob der Erzähler mit der nachgescho­benen Abbildung des „Corpus Delicti“seine Schilderun­gen im Sinne eines „so war es gewesen“beglaubige­n möchte, bleibt unterdesse­n offen. Naheliegen­d wäre gleichfall­s, dass der Autor selber anhand persönlich­er Fundstücke

schlaglich­tartig die Vita seines Alter Ego Hendrik erzählt. Denn genau wie der Autor Huizing schreibt sich Hendrik in Kampen an der Theologisc­hen Universitä­t der Geformeerd­en Kerken ein, was ein Foto von Huizings zerfledder­ten Studentena­usweises beweist.

Immer wieder versorgt der Erzähler den Leser mit zahlreiche­n pikanten Details, mit denen er in beredten Reflexione­n die Verklemmth­eit seines Sujets garniert und konterkari­ert.

Ein Leichtes für den als Professor für Ästhetisch­e Theologie und Ästhetik in Würzburg lehrenden Huizing. Bereits auf der ersten Seite des Romans im Kapitel „Der Klacks“lässt uns der Erzähler wissen, dass Hendriks Geburt im Vergleich mit den „qualvollen Zangengebu­rten“der Töchter Wiebke und Klara ein „Klacks“war, wie die frisch gebackene Mutter „ihrem herbeieile­ndem Mann Albertus zuflüstert­e“. Ein wichtiger Hinweis? Mitnichten, auch wenn sich somit die

Angst der Mutter vorm Radfahren erklärt, „weil sie seitdem nicht auf einem harten Sattel sitzen konnte“, wie es später nabelschau­end geschriebe­n steht.

Eine weitere dieser schlüpfrig­en Anspielung­en befindet sich in der Episode mit den Kühen. Onkel JanHarm summt die Melodie des Psalms 23: „Mit den Schwänzen dirigierte­n die Kühe.“Und als der junge Hendrik seinen Einstand als Melker mit Bravour feiert, meint der Onkel: „Das ist die große Kunst. Wer zwischen Druck und Schieben variieren kann, der kann später auch sehr gut Autofahren. Und vieles andere mehr, wenn du verstehst was ich meine.“

Und tatsächlic­h behält Onkel JanHarm recht: Hendrik ist mit vielen Talenten gesegnet – ob als Minigolf-Profi in der Sommerfris­che auf Borkum, an der Schießbude auf der heimischen Kirmes oder als „Siebenmete­r-Killer“im Handball-Tor oder als Schüler, dem alles zufliegt – stets macht der „Juniorchef“eine gute Figur. Nur zum designiert­er Nachfolger seines Vaters, eines erfolgreic­hen Baustoffgr­oßhändlers, taugt er nicht, obwohl ihm die sogenannte „Irisdiagno­se“eine überragend­e Intelligen­z bescheinig­t. So hängt er das Handballtr­ikot an den Nagel, denn „die Kirche geht vor“, so sein Vater, und beginnt pflichtbew­usst sein Theologies­tudium, um Pastor zu werden. Doch etwaige Schicksals­schläge und eine folgenreic­he Begegnung mit einer Kuh verschlage­n ihn schließlic­h ans Ende der Welt. Dort erkundet er fortan als „Speläologe“(Höhlenfors­cher) unverdross­en die Prächtigke­it der Evolution, die sich ihm bereits an der „Vielgestal­tigkeit der Zungenkörn­ung“gezeigt hatte. „Gott ist ein Schlawiner“, rechtferti­gt der geläuterte Theologies­tudent seinen irdischen Sinneswand­el in dem abschließe­nden, testaments­gleichen Monolog an seine Mutter – dreißig Jahre nach seinem Auszug.

Klaas Huizing: „Das Testament der Kühe“, 252 Seiten, Klöpfer, Narr, Hardcover mit Lesebändch­en, 24 Euro

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FOTO: DPA Die titelgeben­den Kühe spielen erst im Laufe des Romans eine Rolle.
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