„Wir kommen jetzt in die Phase der Verantwortung“
Der NRW-Regierungschef rechtfertigt die Lockerungen der Corona-Beschränkungen – und fordert weitere Erleichterungen für Rückkehrer aus dem Ausland.
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hält weitere Wochen Lockdown für unverantwortlich. Im Interview mit unserer Zeitung warnt er vor massiven Schäden für die Menschen und die Wirtschaft.
Herr Laschet, laut Robert-Koch-Institut ist die Ansteckungsrate wieder über den kritischen Wert 1 gestiegen. Kamen die Lockerungen zu früh?
LASCHET Nein. Anfang der Woche hatten wir laut RKI mit bundesweit 357 Neuinfektionen den niedrigsten Montagswert seit Monaten. Natürlich beachten wir alle Faktoren sehr genau, um ein umfassendes Lagebild zu haben. Die R-Zahl ist einer davon. Wir müssen ganzheitlich abwägen und alle Schäden für die Menschen und die Gesundheit im Blick haben. Entscheidend ist, regional schnell und konsequent zu handeln, so wie dies im Kreis Coesfeld geschehen ist.
Hätte man mit Lockerungen warten sollen, bis die Tracing-App da ist?
LASCHET Ich kenne niemanden, der jetzt noch einmal fünf Wochen Lockdown verantworten kann – mit massiven Schäden für Menschen, Gesundheit und Wirtschaft. Mir schrieb jüngst ein Sohn, sein Vater habe den Lebenswillen verloren, weil er im Pflegeheim keinen Besuch mehr bekommen durfte, und sei gestorben. Und der Sohn durfte nicht mehr zu ihm. Was für eine furchtbare Geschichte. Die Maßnahmen waren auch im Rückblick nötig, um das Virus zu bekämpfen, aber das können wir nicht allein in der Hoffnung auf die Wirkung einer App verlängern. Wir kommen jetzt aus der Phase der Verbote in die Phase der Verantwortung jedes Einzelnen und müssen ganzheitlicher denken, abwägen und entscheiden.
Zuletzt gab es Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Beunruhigt?
LASCHET Es gehört zur Demokratie, dass Bürgerinnen und Bürger das Recht haben, ihre Meinung zu äußern. Aber es ist beunruhigend, wenn Extremisten von rechts und links die Diskussion anheizen und versuchen, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Nicht hinnehmbar sind Verstöße gegen die Abstandsregeln, denn sie gefährden die Gesundheit anderer. Vor allem aber sind Angriffe auf Journalisten inakzeptabel. Solche Angriffe auf die Pressefreiheit werden wir ebenso wenig dulden wie Attacken gegen Polizisten oder Ordnungskräfte. Hier gilt null Toleranz gegen Gewalttäter.
Sie wollen sich mit den Amtskollegen in Belgien und den Niederlanden abstimmen. Worum soll es gehen?
LASCHET Seit März koordinieren Belgien, die Niederlande und Nordrhein-Westfalen auf meine Initiative in einer grenzüberschreitenden TaskForce
Aktivitäten und Bausteine des Krisenmanagements im Kampf gegen Corona. Mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte habe ich am Wochenende verabredet, besonders Schritte im Tourismus abzustimmen. Es geht aber auch um Frankreich. Dass die Europa-Brücke zwischen Kehl und Straßburg gesperrt ist, schmerzt mich seit Wochen. Dass Sie ausgerechnet nicht nach Schengen über die Mosel dürfen und dort die Fahnen auf halbmast wehen, ist ebenfalls schmerzhaft. Ohne den Binnenmarkt mit offenen Grenzen kann auch Deutschland die Krise nicht überwinden.
Aber die Zeit drängt ja wegen der nahenden Sommerferien.
LASCHET Bis zum 15. Mai gelten noch die vom Bundesinnenminister verfügten Grenzkontrollen. Wenn
Frankreich den Lockdown am 11. Mai beendet, brauchen wir eine Lockerung der Quarantäne-Maßnahmen für Rückkehrer aus den europäischen Ländern. Da bin ich mit meiner Amtskollegin aus Rheinland-Pfalz und dem Kollegen aus dem Saarland einer Meinung. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas gelingt nur gemeinsam. Aus meiner Sicht waren die vergangenen Wochen zu sehr nationalstaatlich und zu wenig europäisch geprägt. Die Zukunft Europas macht mir große Sorgen. Wir brauchen neue europäische Ideen in einer Welt nach der Pandemie.