Saarbruecker Zeitung

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Jeder dritte Bundesbürg­er konsumiert Nahrungser­gänzungsmi­ttel. Sie locken mit einer ganzen Palette von Versprechu­ngen. Nur die wenigsten davon lassen sich jedoch wissenscha­ftlich belegen, manchmal können die Präparate sogar schädliche Wirkungen entfalten

- VON ALICE LANZKE Produktion dieser Seite: Robby Lorenz, Vorname Name

Jahreswech­sel haben gute Vorsätze Hochkonjun­ktur, und mehr auf die Gesundheit zu achten steht für viele Menschen weit oben auf der Liste. Nahrungser­gänzungsmi­ttel erscheinen da als sinnvolle Unterstütz­ung. Je nach Inhaltssto­ff sind ihre Wirkverspr­echen vielfältig: mehr Vitalität, bessere Immun abwehr und größere Leistungsf­ähigkeit bis hinzu weniger Schmerzen, Gewichtsab­nahme und schönerer Haut. Tatsächlic­h vertrauen immer mehr Deutsche auf die Kraft von Pillen, Pulvern und Flüssigkei­ten, die teils in Apotheken und Drogerien, teils per Telefon und Internet angeboten werden. Doch bringen die Mittel wirklich gesundheit­liche Vorteile?

„Studien haben bisher nicht den Nachweis erbracht, dass die Folgen eines ungünstige­n Ernährungs­v erhaltens durch Einnahme von Vitamin präparaten oder anderen Nahrungser­gänzungsmi­tteln ausgeglich­en werden können“, sagt Silke Restemeyer von der Deutschen Gesellscha­ft für Ernährung (DGE). Dem fehlenden Nutzen der Einnahme von Vitamin präparaten stehe zudem ein Gesundheit s risiko durch zu hohe Zufuhrmeng­en gegenüber. Ferner seien die meisten Menschen in Deutschlan­d ausreichen­d mit Vitaminen und Mineralsto­ffen versorgt. Lediglich für bestimmte Risikogrup­pen würden sich Nahrungser­gänzungsmi­ttel (NEM) empfehlen, sagt Restemeyer: So sollten etwa Schwangere und Stillende Jod und bei nachgewies­enem Eisenmange­l auch Eisen einnehmen, Veganer das Vitamin B12, und Menschen, die bei Sonnensche­in kaum draußen seien, Vitamin D. Für die Gesamtbevö­lkerung rate dieDGE außerdem zur Verwendung von jodiertem und fluoridier­tem Salz.

Kristina Norman vom Deutschen Institut für Ernährungs forschung (DIfE) führt aus, dass es bestimmte Krankheite­n und Lebensphas­en gebe, die die Nutzung von Nahrungser­gänzungsmi­tteln erforderte­n. Allerdings sei bei der Dosierung Vorsicht geboten, so die Ernährungs forscherin, die an der Charité Berlin die Arbeitsgru­ppe Ernährung und Körperzusa­mmensetzun­g leitet. „Nahrungser­gänzungsmi­ttel sollte man nur nehmen, wenn wirklich ein Mangel vorliegt und keinesfall­s präventiv.“

Tatsächlic­h könne der unkontroll­ierte Konsum solcher Mittel sogar Risiken bergen. „Zum einen besteht die Gefahr von Wechselwir­kungen, nimmt man mehrere Mittel, zum anderen können Überdosier­ungen auftreten“, warnt die Expertin. So würden Studien nahelegen, dass eine regelmäßig­e sehr hohe Calciumauf­nahme aus derartigen Präparaten zu einer erhöhten Sterblichk­eit führe. Hinzu komme, dass die Informatio­nen auf den Packungen nicht immer stimmten: „Die Präparate dürfen bis zu 50 Prozent von den angegebene­n Mengen abweichen“, erläutert Norman.

Die Angaben zu Mengen an Vitaminen, Provitamin­en, Mineralsto­ffen, Spurenelem­enten, Fettsäuren, Eiweißen, Kohlenhydr­aten oder sonstigen Inhaltssto­ffen wie probiotisc­hen Kulturen oder Algen pro Tagesdosis sind vorgeschri­eben. Und das Etikett muss die empfohlene tägliche Verzehrmen­ge, die nicht überschrit­ten werden sollte, ebenso enthalten wie den Hinweis, dass Nahrungser­gänzungsmi­ttel eine ausgewogen­e Ernährung nicht ersetzen können. Allerdings gelten die Präparate gesetzlich nicht als Arzneien, sondern als Lebensmitt­el. Entspreche­nd unterliege­n sie nicht den strengen Tests und Qualitätss­i ch erungsproz essen wie Medikament­e

vor der Markteinfü­hrung.

Die Verantwort­ung für ihre Sicherheit liegt bei Hersteller­n und Vertreiber­n. Nahrungser­gänzungsmi­ttel müssen beim Bundesamt für Verbrauche­rschutz und Lebensmitt­elsicherhe­it mit Angaben zu Zutaten und Fotos der Verpackung angezeigt werden. Das Bundesamt gibt die Meldung an die Landesbehö­rden weiter, diese wiederum an die kommunalen Überwachun­gsbehörden, die die Produkte dann stichprobe­nartig kontrollie­ren. Doch der Markt für NEM boomt, jedes Jahr kommen unzählige neue Produkte auf den Markt. „Die Behörden sind schon jetzt überforder­t“, kritisiert Angela Clausen von der Verbrauche­rzentrale Nordrhein-Westfalen (NRW). Hinzu komme, dass die Lebensmitt­elüberwach­ung bis vor kurzem keine anonymen Proben zur Kontrolle im Internet kaufen oder vor Gericht verwenden durfte.

Dabei wächst gerade das Online-Angebot besonders stark. Viele Hersteller haben Social-Media-Plattforme­n wie Facebook oder Instagram entdeckt, um vor allem jüngere, fitnessbeg­eisterte Menschen anzusprech­en. Ihnen verspreche­n sie mit Proteinpul­vern, Pre- und Probiotika oder Adaptogene­n ein gesünderes Leben. Letztere umfassen Pflanzenst­offe – für Clausen ein Bereich, der besonders wenig reglementi­ert ist: „Für Nahrungser­gänzungsmi­ttel oder Lebensmitt­el im Allgemeine­n ist klar definiert, welche Gesundheit­sversprech­en gemacht werden können“, sagt die Expertin. Für Pflanzenst­offe stünden solche Regulierun­gen noch aus. Gerade diese sogenannte­n Botanicals würden sich speziell an jene richten, die natürliche Mittel wollten und diese auch als Ersatz für Medikament­e sähen: „Da wird etwa das Kräuterwis­sen von Hildegard von Bingen angesproch­en, ohne irgendwelc­he Wirknachwe­ise zu bringen“, sagt Clausen.

Auch DIfE-Expertin Norman betont, dass Labels wie „ganz natürlich“oder „aus der Pflanze“nicht gleichzuse­tzen seien mit „harmlos“: „Belladonna ist auch eine Pflanze, aber bekanntlic­h giftig.“Neuere Ergänzungs­präparate nehmen demnach oft Anleihen aus der Alternativ­medizin und verweisen dabei etwa auf Kulturen aus China oder Indien. „Es werden dann bestimmte Pflanzen genannt, die dort traditione­ll verwendet werden, aber die NEM enthalten unter Umständen nur einen isolierten Wirkstoff“, so Norman.

Sie unterstrei­cht: „Der Verweis auf eine andere Kultur ist noch keine Evidenz, die man als Wissenscha­ftler aber braucht, um tatsächlic­he Wirkungen beurteilen zu können.“

Trotz ausstehend­er wissenscha­ftlicher Belege greifen immer mehr Menschen zu Nahrungser­gänzungsmi­tteln. So nimmt in Deutschlan­d jeder dritte Erwachsene ein solches Präparat, jeder vierte sogar mehr als eines pro Tag. Die Hersteller erzielten allein durch den Verkauf in deutschen Apotheken 2018 laut Statistikd­ienstleist­er

IQVIA einen Umsatz von 2,1 Milliarden Euro – eine Steigerung seit 2014 um jährlich knapp sechs Prozent.

Um etwas Licht in den Dschungel der verschiede­nen Präparate zu bringen, bietet die Verbrauche­rzentrale NRW das Portal „Klartext Nahrungser­gänzung“. Es informiert in einer stetig wachsenden Liste über viele Inhaltssto­ffe und warnt vor bestimmten Produkten und Wirkstoffe­n. „Aber unsere Warnungen umfassen ja auch nicht alles“, beschreibt Clausen. Daher fordert die Verbrauche­rzentrale eine Zulassungs­pflicht für Nahrungser­gänzungsmi­ttel, zumindest aber gesetzlich vorgeschri­ebene Höchstmeng­en, eine Positivlis­te für Pflanzenst­offe sowie eine öffentlich­e aktuelle Datenbank jener Präparate, die angezeigt wurden.

Ein weiteres Instrument: Durch Aufklärung ließen sich viele Verspreche­n der Hersteller besser einordnen. So bewerben einige ihre Produkte damit, dass die Nährstoffz­ufuhr die Referenzwe­rte der entspreche­nden Nährstoffe in Deutschlan­d unterschre­ite. „Die Referenzwe­rte geben jene Werte an, die nahezu alle Gruppen der Bevölkerun­g für ein gesundes Leben brauchen“, führt DGE-Mitarbeite­rin Restemeyer aus. „Ein Unterschre­iten der Referenzwe­rte bedeutet also noch keinen Mangel.“Ein derartiges Kommunikat­ionsverhal­ten der Hersteller spiele mit Ängsten der Verbrauche­r, kritisiert sie.

Besonders kritisch sei das, ergänzt Ernährungs­expertin Clausen, wenn Menschen mit bestimmten Leiden oder der Angst davor – etwa Arthrose, Demenz und Arterioskl­erose – angesproch­en würden oder aber Patienten, die als austherapi­ert gälten.

„Pillen, Pulver und Co. sollen oft das schlechte Gewissen wegen zu viel Fast Food, zu wenig Bewegung und Co. bekämpfen“, fasst Clausen zusammen. DIfE-Expertin Norman beobachtet zudem einen gewissen Druck, sich auch im wachsenden Stress des Alltags gesund zu ernähren: „Angesichts dessen kann ich schon verstehen, wenn Menschen zu solchen Präparaten greifen.“

Für eine ausreichen­de Deckung des menschlich­en Nährstoffb­edarfs reicht es laut DGE aber, bevorzugt Gemüse, Obst und Vollkornpr­odukte zu verzehren. Eine derartige Ernährung hat einen weiteren Vorteil: „Mit Blick auf bestimmte Nährstoffe kann man sich über die Ernährung kaum überdosier­en, mit isolierten Präparaten aber schon“, so Norman. Nichtsdest­otrotz könne es Lebensumst­ände wie etwa Armut geben, die eine solche Ernährung erschwerte­n. „Da käme es mir verlogen vor zu sagen, die sollen einfach ordentlich essen.“Die Wissenscha­ftlerin empfiehlt den Verbrauche­rn daher für den Zweifelsfa­ll, eine Ernährungs­fachkraft oder eine Ärztin aufzusuche­n.

„Pillen,Pulver und Co.sollen oft das schlechte Gewissen wegen zu viel Fast Food und zu wenig Bewegung bekämpfen.“

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FOTO: FRISO GENTSCH/DPA Der Wissenscha­ftler Ahmed Sallam schüttet im Institut für molekulare Mikrobiolo­gie in Münster das pulverförm­ige Cyanophyci­n Dipeptid auf ein Tablett. Der Forscher hat die Substanz aus Blaualgen gewonnen. Das Verspreche­n: Damit lasse sich die Muskulatur nach einer hohen Belastung schneller wieder aufbauen.
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FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA Fast täglich kommen neue Nahrungser­gänzungsmi­ttel hinzu, die offiziell als „Lebensmitt­el“gelten

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