Saarland gedenkt Deportation der Sinti
Wie lebten die Saarländer in den „goldenen“20er Jahren? Das liest man im Begleitband zur Ausstellung im Historischen Museum Saar.
Am 16. Mai 1940, genau vor 80 Jahren, wurden die ersten Sinti und Roma im Saarland von den Nationalsozialisten in Vernichtungslager deportiert. Saarlandweit finden Kranzniederlegungen im Gedenken an die Opfer statt.
Auch Kino will gelernt sein. Als 1928 der Stummfilm „Ben Hur“im Völklinger „Metropol Theater“gezeigt wurde, soll eine Zuschauerin bei der Kreuzigungsszene mit dem Regenschirm auf die Leinwand los gestürmt sein, um auf den dort projizierten Judas einzuschlagen: „Du Lump hascht uuser Herrgott verròòt“. Eine wunderbare Anekdote, mit der Aline Maldener ihren Beitrag zum neuen Freizeitvergnügen der 20er Jahre beginnt.
Amüsante Fundstücke wie diese sind freilich Raritäten im Katalog, den das Historische Museum Saar zu seiner aktuellen Ausstellung herausgegeben hat: „Die 20er Jahre: Leben zwischen Tradition und Moderne im internationalen Saargebiet (1920-1935)“. Der wenig elektrisierende Titel lässt leider nicht ahnen, wie lebendig und inspirierend die Präsentation im Museum am Schlossplatz geraten ist. Das Thema wird aus der Sicht der Bevölkerung gespiegelt, für die die große Politik der Weimarer Republik und das, was später zum Mythos der „Goldenen Zwanziger“wurde, weit hinter ihrem Dorf-Horizont lag. Saarbrücken immerhin mauserte sich stadtplanerisch gerade zur Großstadt. Der Corona-Krise verdanken wir eine Ausstellungs-Verlängerung bis 30. August, und der jüngst erschienene Katalog erlaubt jetzt, sich einzulesen, und durchaus auch Neues zu erfahren über eine hier zu Lande kaum je in Gänze aufgearbeitete Phase saarländischer Geschichte.
Seit 1920 gehörte nämlich der Sonderregierungs-Bezirk „Saargebiet“(1920 bis 1935) nicht mehr zu Deutschland. Es war ein nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag geschaffenes politgeographisches Konstrukt, regiert von einer international besetzten Völkerbunds-Kommission, dominiert von Frankreich, das sich die Saar-Gruben gesichert hatte und aber weit mehr wollte: die staatliche Einverleibung des Gebietes. Damals stand das Saargebiet im Fokus der Weltöffentlichkeit. Doch war es deshalb internationaler als andere Regionen? Keiner der Beiträge nimmt sich diese Frage vor, überhaupt sind explizit vergleichende Themenstellungen rar. So muss man viel und lange lesen, um sich ein eigenes Bild zu verschaffen über das damalige Saarvoir vivre, den saarländischen Sonderweg in die Moderne. Davon profitierte beispielsweise die Jugend. Anders als in anderen Ländern des Deutschen Reiches strömten im Saargebiet Jugendliche unter 17 Jahren forschfröhlich in die Kinos – mangels eigener Jugendschutzgesetze im Völkerbunds-Gebiet. Eine Besonderheit waren auch die Dominialschulen, die zunächst für Kinder des französischen Gruben-Personals gedacht waren, dann aber für alle Kinder geöffnet und dadurch zum Zankapfel eines hysterisch geführten deutsch-französischen Kulturkampfes wurden. Dies, obwohl bilingualer Unterricht auch damals schon breitere Karrierewege öffnete, und obwohl nur 5000 von insgesamt etwa 125 000 Kindern in die 25 neu gegründeten Schulen gingen.
Paul Burgard zeichnet das Anwachsen „nationaler Reizbarkeit“in der Saargebiets-Bevölkerung nach, die sich, getrennt von der „deutschen Mutter“vor der „französischen Krankheit“, der „deutsch-kulturellen Auszehrung“fürchtete wie vor der Pest. Man liest den flüssig geschriebenen Text auch deshalb mit hohem Ertrag, weil Burgard immer wieder den Gegenwartsbezug herstellt und festhält, welch „gewaltiger Graben“die heutige Kultur von der der 1920er Jahre trennt.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich das kleine Team um Museumschef Simon Matzerath überhaupt an eine zeitaufwändige Katalog-Produktion wagte, bisher hielt sich das Historische Museum Saar mit Publikationen zurück. Aber bei diesem Zwanziger-Jahre-Projekt wären das sträflich gewesen, denn jetzt ist die bis dato nie in Gänze dargestellte Völkerbunds-Periode dann doch in einer mosaikartigen Überblicks-Darstellung dokumentiert. Insgesamt 27 Artikel haben die Herausgeber Simon Matzerath und Jessica Siebeneich im Katalog zusammengestellt, von Mode bis zu Recht, von Presse bis zur Kohleproduktion wird ein Riesen-Spektrum abgehandelt. Die Autoren waren deshalb zur – grundsätzlich lobenswerten – Kürze verpflichtet, zumal auch noch über 140 Abbildungen Platz finden sollten, unter denen man sich noch mehr historische Fotos gewünscht hätte. Denn sie führen tatsächlich dorthin, wo man in einer Saarland-spezifischen Geschichtsstunde hin will, tief hinein ins lokale Geschehen: zur Fastnachtfeier des Keglerverbandes 1928 im Saalbau, ins Schnellrestaurant „Eins-zwei-drei“auf der Saarbrücker Bahnhofstraße, in den Massageraum des 1926 modernisierten
Kaiser-Friedrich-Bades in Saarbrücken, das jährlich bis zu 500 000 Besucher anzog.
Allerdings hat die Fülle ihren Preis, ob der Platzbeschränkung gerät der ein oder andere Text-Beitrag sehr lexikalisch. Das tut besonders weh, wenn es menscheln dürfte, ja müsste. Privat und charakterlich unausgeleuchtet bleibt etwa die Figur des Saarbrücker Oberbürgermeisters Hans Neikes, der sich renitent und obstruktiv gegenüber der Völkerbunds-Obrigkeit benahm und Hitler 1934 die Ehrenbürgerwürde antrug. Ebenso wenig lebendig wird Angela Braun-Stratmann (1892 bis 1966), die Mitbegründerin der saarländischen Arbeiterwohlfahrt und spätere Landtagsabgeordnete. Sie war mit dem – bestens erforschten – Sozialdemokraten, Journalisten und Status-Quo-Kämpfer Max Braun verheiratet. Dank des Katalogbeitrages wissen wir nun zumindest, dass dessen Vorliebe fürs Mondäne auch bei ihr ein Echo hatte. Die feministisch engagierte Angela nannte sich „Angèle“und hielt das Saarland durchaus für ein wenig provinziell.
„Die 20er Jahre: Leben zwischen Tradition und Moderne im internationalen Saargebiet (1920-1935)“,Michael Imhof Verlag, 29,95 Euro. Er ist beim Verlag und im Museum erhältlich.