Die geistige Mutter der Freiheitskämpfer(innen)
PORTRÄT Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ist mit ihren 72 Jahren die wichtigste Identifikationsfigur der Opposition in Belarus.
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Mit dieser These fing alles an bei Swetlana Alexijewitsch. Das war 1983, als sie einen Dokumentarroman über das Schicksal von Frauen im Weltkrieg vollendete. Doch die Zensur kassierte das Buch. Die Tochter einer Dorfschullehrerin und eines überzeugten Kommunisten gehörte ab sofort zur Dissidenz. Zu den Aussätzigen im herrschenden System. Damit begann das Dauerdrama eines Lebens, das vom kompromisslosen Kampf gegen Lüge und Gewalt handelt.
In diesem Spätsommer der belarussischen Freiheitsrevolte führt Alexijewitsch ihren Kampf entschlossener denn je. Mit 72 Jahren. Obwohl sie doch 2015 für ihr Schaffen den Literaturnobelpreis erhalten hat. Sie könnte sich also ausruhen auf dem Lorbeer. Stattdessen ruft sie dem Diktator Alexander Lukaschenko Sätze entgegen, die immer wieder zu zentralen Parolen der Demokratiebewegung werden. „Hau ab“, forderte Alexijewitsch schon drei Tage nach der Präsidentenwahl, an die Adresse des Diktators gerichtet, der die Abstimmung mit 80 Prozent gewonnen haben wollte. „Lüge“, urteilte die Nobelpreisträgerin. Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja habe gesiegt.
Seither ziehen jeden Sonntag Zehntausende durch Minsk, prangern den Wahlbetrug an und skandieren „Hau ab!“, Lukaschenko soll gehen. Von Alexijewitsch stammt auch der Satz vom „Krieg eines Einzelnen gegen sein Volk“, den Tichanowskaja aufgriff. Das Regime zwang die 38-Jährige zur Flucht nach Litauen. Eine andere zentrale Figur der Opposition, die gleichaltrige Maria Kolesnikowa, widersetzte sich der Abschiebung, indem sie ihren Pass zerriss. „Bravo, Mascha“, kommentierte Alexijewitsch, als wäre sie Kolesnikowas Mutter.
Und sie könnte es ja auch sein, vom Alter her. Sie könnte auch die Mutter von Tichanowskaja sein oder von all den anderen jungen Frauen im Land, die den Freiheitskampf in Belarus prägen. Denn eines ist ja unübersehbar: Dieser „Krieg“hat definitiv ein weibliches Gesicht. Über den Mut der Frauen in Belarus freut sich Alexijewitsch, die so etwas wie die geistige Mutter der Kompanie ist, sichtlich. Zu beobachten war das kürzlich, als sie zum ersten Mal westliche Diplomaten in ihrem Haus in Minsk empfing. Dabei hatte die 72-Jährige an jenem Tag wenig Grund zur Freude. Schließlich waren zuvor mehrfach maskierte Männer bei ihr aufgetaucht, um sie einzuschüchtern. Seither sind regelmäßig Abgesandte westlicher Botschaften zu Gast. Immerhin ist Alexijewitsch das letzte Präsidiumsmitglied des oppositionellen Koordinierungsrates, das noch im Land und in Freiheit ist, obwohl der Rat doch nur einen nationalen Dialog organisieren sollte. Doch davon will Lukaschenko nichts wissen.
Ihre Prominenz schützt Aleksijewitsch. Dabei ging es ihr nie um Ruhm. Öffentlichkeit will sie für die Heldinnen und Helden ihrer Werke herstellen. Für die Mütter gefallener Afghanistankämpfer zum Beispiel im Roman „Zinkjungen“. Sie hat über die Liquidatoren der Atomkatastrophe in Tschernobyl geschrieben und über Dissidenz in der Sowjetunion („Secondhand-Zeit“). Ein wenig unterbelichtet geblieben ist dabei das eigene Leben.
1948 in Galizien geboren, wuchs Alexijewitsch in größter Armut auf. Eine Zeitlang hielten orthodoxe Nonnen sie mit Ziegenmilch am Leben. Das war schon in Belarus, der Heimat des Vaters, wo die junge Swetlana zur Literaturredakteurin aufstieg. Dann begegnete sie einer Frau, die im Krieg Scharfschützin gewesen war. Daraus entstand jenes Buch über den „Krieg, der kein weibliches Gesicht hat“– und mit dem für Alexijewitsch all das begann, was sich in der Freiheitsrevolte 2020 vollenden könnte.