30 Jahre Einheit – wie sie Spitzenpolitiker sehen
Ist die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte? Was ist in 30 Jahren schiefgelaufen? Unsere Berliner Redaktion hat nachgefragt.
Was verbinden führende Politiker persönlich mit der Deutschen Einheit nach 30 Jahren? Die SZ-Redaktion hat nachgefragt. Neben den Erfolgen kommen gravierende Versäumnisse zur Sprache.
Wenn ich mir anschaue, wie sich Senftenberg in Brandenburg entwickelt hat – die Partnerstadt meines Heimatorts Püttlingen – dann kann ich aus persönlicher Perspektive feststellen, dass die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte ist. Das wäre ohne Einheit nicht möglich gewesen. Auch das Verteidigungsministerium ist ein starkes Zeichen: Dort dienen Kameradinnen und Kameraden aus Ost und West gemeinsam an Standorten im ganzen Land. Ein historisches Glück angesichts der Tatsache, dass sich deutsche Soldaten einmal feindlich gegenüber standen. Es ist auch bemerkenswert, wie in der CDU Ost- und Westverbände zusammengewachsen sind.
Das freut mich als Parteivorsitzende ganz besonders. Manchmal blicke ich mit Schaudern auf die deutsche Teilung zurück. Meine Kinder kennen die Mauer aber nur aus Erzählungen.
Es bleibt viel zu tun und dennoch: Die Einheit war und ist unser großes Glück. Wir müssen es uns bewahren.
Die Deutsche Einheit als solche ist eine Erfolgsgeschichte. Allein die Tatsache, dass der Wandel in Frieden möglich war, bleibt eine außergewöhnliche Leistung und Verdienst kluger Politik verantwortungsvoller Entscheidungsträger. Dass daraus kein dauerhafter und unumkehrbarer Prozess wurde, ist das eigentliche Drama unserer Tage. Wir müssen alles dafür tun, um wieder an den Moment einer neuen europäischen Friedensordnung anzuknüpfen. Das ist nicht leicht, aber wir würden sonst alles verspielen, was vor mehr als 30 Jahren begann.
Die deutsche und die europäische Einheit bleiben eine ständige Verpflichtung, weil die Spuren der Teilung nie ganz verschwinden werden. Auch wenn die ostdeutschen Länder aufgeholt haben, dürfen wir die Strukturbrüche nicht übersehen, die sowohl den Osten wie den Westen Deutschlands (...) betreffen. Für mich bedeuten 30 Jahre Deutsche Einheit die Verpflichtung, Europa weder der AfD noch den autoritären Populisten, Nationalisten und Rassisten dieser Welt zu überlassen. Frieden ist nur durch Demokratie und Gerechtigkeit sicher.
Vom 9. November 1989 zum 3. Oktober 1990: Elf Monate, die in ihrer Dramatik und Geschwindigkeit noch heute atemberaubend wirken. Die Deutsche Einheit ist als außenpolitisches Bravourstück gelungen. Neben manch blühender Landschaft herrscht nach 30 Jahren doch Katzenjammer: Ungleiche Löhne und Renten, Wirtschaftsgefälle, Treuhanddebakel und ein kultureller Riss zwischen Ost und West, der mit der Migrationskrise von 2015 offen zutage trat. Sprengstoff, der merkliches Unbehagen auslöst, indem sich Bürger dem eigenen Land entfremdet fühlen.
Wer hoffte, dass die Einheit endlich ein „Bild des Deutschen von sich selbst“hervorbringt, dürfte enttäuscht sein. Was für Franzosen oder Engländer selbstverständlich ist, ist für Deutsche immer noch ein beklemmendes Gefühl. Für mich war die Einheit eine Rückkehr sowie ein beruflicher Neubeginn. Die Deutung der Einheit liegt meist bei den Westdeutschen – aber es waren die Ostdeutschen, die sie ermöglichten.
Am 3. Oktober blicken wir zurück und vergessen oft dabei, dass an diesem Tag vor 30 Jahren zwar die Einheit unseres Landes besiegelt wurde, der lange Prozess der Vereinigung von Ost und West aber erst begonnen hatte. Damals dachte man: Erst kommt die Einheit und dann wird der Osten schon wie der Westen werden. Heute, 30 Jahre später, sehen wir, dass sich Ost und West wechselseitig angenähert und gegenseitig bereichert haben. Alles und alle haben sich verändert, unser Land ist vielfältiger und reicher geworden. Erst die Rückschau macht den Kopf frei für den Blick nach vorn: Wohin gehen wir mit unserem vereinten gemeinsamen Land? Wir tragen Verantwortung in Europa, in der Welt. Und wir haben in den vergangenen 30 Jahren die einzigartige Erfahrung der Gestaltung eines tiefschürfenden Transformationsprozesses, mit allen Härten und Brüchen, gemacht. Diese Erfahrung ermöglicht es, uns den nötigen Veränderungen der Zukunft wie der Bewältigung der Klimakrise mit Zuversicht zu stellen und voranzugehen.
Als Deutschland wiedervereinigt wurde, war ich elf Jahre alt. Mit der Zeit der Teilung verbinde ich auch familiäre Erinnerungen. Unsere Verwandten, die in Brandenburg leben, konnten uns in Westdeutschland nicht besuchen. Beim Briefeschreiben musste auf jedes Wort geachtet werden. Groß war deshalb auch in unserer Familie die Freude, als diese Trennung endlich zu Ende war. Die Wiedervereinigung war keine Selbstverständlichkeit. Die Mauer fiel nicht von allein. Sie wurde von Menschen eingerissen. Auch in aktuellen Debatten sollten wir uns daran erinnern, welche Triebkräfte hinter der friedlichen Revolution standen. Es war der Wunsch nach Freiheit. Und es war der Drang der Menschen, ihr Leben endlich selbst in die Hand nehmen zu können. Diese Werte sind unverändert aktuell geblieben. In Debatten der Gegenwart allerdings droht der Wunsch nach mehr Gleichheit den Wert der Vielfalt häufig zu überlagern. Es bleibt deshalb eine Aufgabe über den 3. Oktober hinaus, die Faszination der Freiheit zu bewahren.
Die Reisefreiheit, ohne Visum den Thüringer Wald oder die Ostsee besuchen zu können, lässt jeder Fünfte aus westlichen Bundesländern ungenutzt. Auf humangeografischen Karten zeichnen sich die alten Grenzverläufe scharf ab. Egal ob sie regionale Verteilungen von Armutsrisiko, Niedriglöhnen, Nettovermögen oder Rentenniveau darstellen: Man könnte auf die Idee kommen, es gäbe weiter zwei deutsche Staaten. Auch der hundertste „Beauftragte für die neuen (!) Bundesländer“wird das nicht ändern. Was alle Regierungen bisher versäumen, ist die Entwicklung einer inklusiven sozialen Demokratie, die nicht nach „neuen“und „alten“Deutschen unterscheidet, sondern die alle Menschen selbstverständlich annimmt und mit den nötigen Mitteln ausstattet, um daran teilnehmen zu können. Erst eine solidarische Gesellschaft, die die revolutionäre Erfahrung von 1989 mit Sicherung individueller Freiheit und sozialen Garantien verbindet, kann die Ost-West-Spaltungsdebatten Geschichte werden lassen.