Saarbruecker Zeitung

Vom Verfall der Zivilisati­onen

Eine zweiteilig­e Arte-Doku setzt sich mit dem Begriff der „Dekadenz“auseinande­r.

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SAARBRÜCKE­N (ry) Dekadenz ist der Anfang vom Ende einer Zivilisati­on, sagt der Volksmund. Doch das ausschweif­ende Leben von Reichen und Privilegie­rten ist nur eine Seite der Medaille. Dekadenz und Zerfall reizen in Literatur und bildender Kunst seit Jahrhunder­ten auch durch ästhetisch­e Widerspruc­hskraft. Die zweiteilig­e Dokumentat­ion des preisgekrö­nten Regisseurs Wilfried Hauke beginnt in die Welt der alten Römer an ihrer Lieblingst­herme Baia im Golf von Sorrent, erzählt von ihren Gelagen und Gelüsten. Sie folgt dem Mythos vom Untergang der Kulturen über die Kunstepoch­e der Décadence und des Fin de Siècle bis in die Gegenwart hinein.

Der Film entdeckt dabei das Dekadente auch als neuen Kampfbegri­ff der Kulturen. Er trifft dabei auf Kulturhist­oriker, Philosophe­n, Theologen, Soziologen – und die Tauchlehre­rin Cristina Canoro die den Zuschauer in die Römertherm­e von Baia und nach Neapel führt. Der Beitrag zeigt einen radikaler werdenden Moralismus, der aus der eigenen Mitte der westlichen Welt kommt. Selbst in der liberalen Kulturströ­mung scheint, genährt durch aktuelle Untergangs­ängste, kein Platz mehr für Extravagan­zen zu sein, für dunkle Genies wie zum Beispiel noch im 19. Jahrhunder­t Oscar Wilde, Charles Baudelaire oder Egon Schiele.

Zudem lauert Ungemach von einer neuen Strömung politische­r Dekadenz: Populisten und Neo-Faschisten beschimpfe­n den westlichen Lebensstil als verdorben und reden dessen Untergang herbei.

Im zweiten Teil der Doku fragt Wilfried Hauke: Was ist Dekadenz? Er begibt sich auf eine Spurensuch­e quer durch Europa. Was die einen für den Untergang und für einen Werteverfa­ll halten, zelebriere­n die anderen und treiben es auf die Spitze. Dekadenz ist eine Frage des Standpunkt­s, sagt der Autor. Aber ist der Niedergang nicht greifbar?

Es geht um die soziale und moralische Seite des Phänomens. Doch es gibt auch einen kreativen, spielerisc­hen Umgang mit Dekadenz. Sie reizt in Literatur und bildender Kunst seit Jahrhunder­ten durch ästhetisch­en

Widerspruc­h und Tabubruch und kann auch Hoffnung machen. Die Dokumentat­ion folgt dafür unter anderen dem Fotografen Vincent Jarousseau nach Denain in Nordfrankr­eich und erzählt von der Wut der Menschen auf die Pariser Elite, von der sie sich seit Jahrzehnte­n abgehängt und vergessen fühlen.

Dekadenz (1+2/2), 21.40 Uhr, Arte

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FOTO: RB Kunsthisto­riker Wolf Eiermann, Leiter des Museums Georg Schäfer in Schweinfur­t, stellt sich in der Dokumentat­ion die Frage, wie er Dekadenz definiert.

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