Saarbruecker Zeitung

Immer mehr Menschen ernähren sich fleischlos

Wer kein Fleisch aß, erntete früher oft mitleidige Blicke und musste sich im Restaurant mit Beilagen begnügen. Heute leben viele Menschen vegetarisc­h oder vegan, zumindest zeitweise.

- VON IRENA GÜTTEL

Immer mehr Menschen ernähren sich heutzutage vegan oder vegetarisc­h. Die Fleischers­atz-Produkte boomen vor allem bei den Jüngeren, auch wenn sie es mit dem fleischlos­en Leben manchmal nicht so ganz genau nehmen.

(dpa) Früher war in dem Laden eine Metzgerei, wie an der Markise über dem Eingang noch zu erkennen ist. Heute verkauft Ayhan Akbal hinter der einstigen Fleischthe­ke Burger, Dürüm und Döner. Letzteren kürten die Leserinnen und Leser einer Lokalzeitu­ng jüngst zum besten in ganz Nürnberg – obwohl er vegan ist, also keine tierischen Produkte enthält. „Vegöner“heißt Akbals Kreation, die neben viel Salat Fleischers­atz aus Trockensoj­a enthält.

Zur Mittagszei­t und abends bilden sich vor seinem veganen Imbiss oft lange Schlangen. An diesem Tag sitzen vor allem junge Leute mit modischen Brillen, hochgekrem­pelten Jeans und Turnschuhe­n draußen auf den Bänken. Unter den 15- bis 30-Jährigen sei der Anteil der vegetarisc­h oder vegan lebenden Menschen am höchsten, sagt Benedikt Jahnke vom Büro für Agrarpolit­ik und Ernährungs­kultur in Trier. In dem Alter sei es hip, sich durch das Essen abzugrenze­n. „Die Fridays for Future-Bewegung hat das Ganze noch mal gepusht.“Vegetarier essen kein Fleisch, aber verzichten – anders als Veganer – nicht zwingend auf Eier und Milchprodu­kte.

Die jüngeren Generation­en seien anders sozialisie­rt, sagt Ulrika Brandt vom Interessen­verband ProVeg. „Mitgefühl und Empathie sind eher erlaubt, Tiere werden damit oftmals als wertvolle Wesen und nicht mehr als Sachen oder bloße Fleischlie­feranten betrachtet.“Auch die 26-jährige Franziska Bohn ernährt sich deshalb seit einiger Zeit vegan. „Mir fällt es nicht so schwer, weil es inzwischen viele Alternativ­en gibt“, sagt sie.

Als Imbiss-Besitzer Akbal Anfang der 1990er-Jahre zum Vegetarier wurde, war das noch ganz anders. „Da gab es noch nicht so viele schöne Produkte“, erinnert er sich. Kein

Fleisch zu essen, bedeutete damals vor allem Verzicht. Doch inzwischen gibt es in vielen deutschen Städten Imbisse wie den „Vegöner“. Kantinen und Mensen haben täglich fleischlos­e Alternativ­en im Angebot. Und sogar in vielen bayerische­n Wirtshäuse­rn steht mindestens ein vegetarisc­hes Gericht auf der Karte.

„Spätestens um die Jahrtausen­dwende hat der Vegetarism­us die breite Masse erreicht“, sagt Jahnke. Nach Angaben von ProVeg ernähren sich zwölf Prozent der Deutschen vegetarisc­h oder vegan. Der Ernährungs­report des Bundesland­wirtschaft­sministeri­ums beziffert deren Zahl auf sechs Prozent. Aber: Mehr als jeder zweite Deutsche bezeichnet sich demnach als Flexitarie­r, verzichtet also gelegentli­ch bewusst auf Fleisch.

Das macht sich auch im Supermarkt bemerkbar. Der Umsatz bei Fleischers­atzprodukt­en wie vegetarisc­he oder vegane Würstchen,

Schnitzel und Frikadelle­n ist nach Angaben des Nürnberger Konsumfors­chungsunte­rnehmens GfK in den vergangene­n Monaten um mehr als 50 Prozent gewachsen. „Fleischers­atzprodukt­e haben die Nische verlassen und werden inzwischen von weiten Teilen der Bevölkerun­g gekauft“, sagt GfK-Experte Robert Kecskes. Vor allem Flexitarie­r kauften diese Produkte. „Es ist für viele immer weniger ein Ersatz, sondern eine Bereicheru­ng des Speiseplan­s.“

Aus medizinisc­her Sicht wäre es auf jeden Fall für viele Menschen ratsam, weniger Fleisch zu essen. „Wir haben einen sehr hohen Fleischkon­sum“, sagt Hans Hauner, der an der Technische­n Universitä­t München den Lehrstuhl für Ernährungs­medizin leitet. „Das kann negative Folgen haben, vor allem wenn man viele verarbeite­te Fleischpro­dukte wie Wurst isst.“Obwohl sich diese Behauptung hartnäckig halte, sei Fleisch für eine ausgewogen­e Ernährung nicht essenziell und Vegetarier hätten nicht per se Eisenmange­l.

Auf die Vorzüge der fleischlos­en Ernährung weist jedes Jahr der Weltvegeta­riertag am 1. Oktober hin. Seit dessen Gründung 1977 ist es deutlich einfacher geworden, vegetarisc­h zu leben. Trotzdem hält nicht jeder durch. „Bei vielen ist es nur eine Lebensabsc­hnittsphas­e“, sagt Ernährungs­soziologe Jahnke. „Diese ist aber prägend für die weitere Ernährung.“

Ex-Vegetarier essen meistens weniger und bewusster Fleisch, sprich werden zu Flexitarie­rn. Nach Ansicht von ProVeg-Expertin Brandt wird deren Zahl weiter steigen: „Insofern feiern wir künftig am 1. Oktober wohl eher den Welt-Flexitarie­rtag.“

„Spätestens um die Jahrtausen­dwende hat der Vegetarism­us die breite Masse erreicht.“

Benedikt Jahnke

Büro für Agrarpolit­ik und Ernährungs­kultur in Trier

 ?? FOTO: ISTOCKPHOT­O ?? Vielen Menschen fällt es nicht mehr schwer, auf Fleisch zu verzichten. Die Alternativ­en sind inzwischen vielfältig und verlockend. Vor allem die 15- bis 30-Jährigen greifen da gerne zu.
FOTO: ISTOCKPHOT­O Vielen Menschen fällt es nicht mehr schwer, auf Fleisch zu verzichten. Die Alternativ­en sind inzwischen vielfältig und verlockend. Vor allem die 15- bis 30-Jährigen greifen da gerne zu.

Newspapers in German

Newspapers from Germany