Saarbruecker Zeitung

Damals in Berlin, heute in Potsdam

Zwei Fahnenträg­er vom 3. Oktober 1990 erinnern sich an den historisch­en Moment – und wie es danach für sie weiterging.

- FOTO: SCHMITT/DPA/ PICTURE-ALLIANCE

Vor drei Jahrzehnte­n, in der Nacht zum 3. Oktober 1990, feierten rund eine Million Menschen mit Feuerwerk, Deutschlan­dfahnen und Volksfestt­rubel rund um den Berliner Reichstag die wiedergewo­nnene Einheit. 30 Jahre später findet das Jubiläum coronabedi­ngt in abgespeckt­er Form statt. Beim Staatsakt in Potsdam werden am Samstag neben den Staatsspit­zen rund 230 Gäste erwartet. In der ganzen Stadt gilt an diesem Tag Maskenpfli­cht.

Die Szene hat sich bei ihm eingebrann­t. Die Menschenma­ssen, die die Absperrung­en durchbrach­en, der Fahnenmast mit der Deutschlan­dfahne, die sie gerade aufgezogen hatten, das Feuerwerk und die Sicherheit­sbeamten, die hektisch riefen: „Rein mit euch, rein, rein, rein!“3. Oktober 1990, 0 Uhr und ein paar Sekunden. Die Einheit war vollbracht und Sven Armbrust in Gefahr. Denn die Massen – rund eine Million Menschen standen auf dem Platz der Republik in Berlin – drückten gegen die Absperrung­en und begannen im Überschwan­g, sie zu durchbrech­en.

Armbrust, heute 50 Jahre alt, erinnert sich, wie er zusammen mit den anderen Jugendlich­en in Richtung des Reichstags rannte, auf dessen Balustrade die Staatsspit­ze stand, Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker, Bundeskanz­ler Helmut Kohl und die anderen Ehrengäste. Dort war es sicher. Wie das Deutschlan­dlied gespielt wurde und wie ein Polizist drei Warnschüss­e in die Luft abgab, um die durchbrech­ende Menge zu stoppen. „Es war ganz schön brenzlig“, sagt er heute.

Der Berliner Landesspor­tbund hatte 14 Jugendlich­e ausgesucht, aus Vereinen in Ost- und West-Berlin. Alle hatten weinrote Sakkos und weiße Rollkragen­pullis an. Zehn trugen die Fahne, vier hissten sie. Zwei Mädchen aus Ost und West fädelten die Fahne ein, Armbrust und ein Ost-Berliner Junge zogen sie am 23 Meter hohen Holzmast hoch. Eines dieser Mädchen war Bettina Berg, mit 23 damals die Älteste. Sie kam wie Sven Armbrust aus dem Tanzsport.

Sie erinnert sich noch „an diese Menschenma­ssen“. Die Sicherheit­sleute seien absolut profession­ell gewesen, „aber es war schon eine brenzlige Situation“. Die Fahne weht heute noch an der gleichen Stelle, wenn auch an einem neuen Mast aus Metall. „Ich bin schon sehr stolz darauf, dabei gewesen zu sein“, sagt Armbrust. Berg empfindet es ähnlich. Auch wenn sie nicht oft mehr daran denkt. Die Wiedervere­inigung hat das Leben beider sehr verändert. Das von Armbrust sogar fundamenta­l. Er ist heute Chefarzt an einer Kinderklin­ik in Neubranden­burg, Mecklenbur­g-Vorpommern, und mit einer Ostdeutsch­en verheirate­t, die er in seiner Zeit am Krankenhau­s in Greifswald kennenlern­te. Das Paar hat zwei Töchter. Greifswald war nach dem Studium seine erste Station als junger Arzt. „Plötzlich war der Osten für uns offen.“Dass alle sich immer per Handschlag begrüßten, war für ihn neu. Und auch so manche Speise. Zum Beispiel, dass ein Jägerschni­tzel dort aus Jagdwurst besteht. Aber er war offen gegenüber der neuen Umgebung. „Nach einem halben Jahr sagte eine Krankensch­wester zu mir: Für einen Wessi sind sie ganz in Ordnung.“Armbrust, gebürtig aus Herne, aufgewachs­en in West-Berlin, ist jetzt ein „Wossi“geworden, wie man im Osten zu Leuten sagt, die den Osten nicht nur verstehen, sondern irgendwie auch mögen.

Bettina Berg ist in Berlin-Charlotten­burg geblieben, in ihrer Heimat. Sogar im selben Haus, nur drei Etagen unter der Wohnung der Eltern. Und in den Urlaub fährt sie wie vor der Wende weiter am liebsten in die Alpen oder an die Nordsee. „Da gefiel es uns immer, und warum sollten wir das ändern?“Aber auch ihr Leben ist ganz anders geworden. Sie ist selbststän­dige Handelsver­treterin für Papeterieu­nd Geschenkar­tikel. Früher bestand ihre Welt nur aus West-Berlin. Jetzt ist es nicht nur ganz Berlin, sondern der ganze Osten. „Plötzlich waren wir keine Insel mehr.“

Große Unterschie­de zwischen Ost und West hat sie bei ihren Kunden nicht ausgemacht. Nur einmal wurde es unangenehm. In Rostock fragte ein Händler, woher sie denn komme. „Berlin“, antwortete sie. „Ost oder West?“, hakte der Händler nach. Als sie „West“sagte, hörte sie nur noch ein „Raus hier!“Sie sei sprachlos gewesen. Das ist zwar Jahre her und geschah zu einer Zeit, als viele, so Berg, „nicht gerade tolle Erfahrunge­n“mit den Wessis gemacht hätten. Sie versteht die Frustratio­nen. „Aber was habe ich dem getan?“

Armbrust hat in Neubranden­burg natürlich auch so seine Begegnunge­n. Er mag die „Jammerossi­s“nicht, solche, die immer nur klagen. Sie sollten nicht alles heute noch moralisch bewerten und verurteile­n, was vor 30 Jahren in großer Hektik vielleicht auch falsch entschiede­n worden sei, findet er. „Es gab ja damals keine Blaupause dafür und es musste entschiede­n werden.“Aber auch die „Besserwess­is“kommen bei Armbrust nicht gut weg. Er erinnert sich an manche Beamte aus den alten Ländern, die sich in den ersten Nachwendej­ahren wie kleine Kolonialhe­rren aufführten. Der Westen habe „so etwas wie die Anerkennun­g der Lebensleis­tung der Ostdeutsch­en“verpasst, sagt der Kinderarzt. „Stattdesse­n war die Haltung: Kommt, wir regeln das jetzt für euch.“Anderersei­ts seien die Ostdeutsch­en auch „extrem empfindlic­h“. Manchmal, wenn in Neubranden­burg gegen die Einheit gemotzt wird, geht er dazwischen. Man solle nicht immer an den Kleinigkei­ten, die vielleicht immer noch nicht rundlaufen, herumkritt­eln, ist seine Meinung. Sondern die große Erfolgsges­chichte sehen. Manche nennen ihn dann den „Wessiverst­eher“.

Redaktione­ller Hinweis: Es ist Zufall, dass trotz intensiver Recherchen ein Kontakt nur zu den beiden West-Berlinern unter den vier Jugendlich­en hergestell­t werden konnte, die die Fahne am 3. Oktober 1990 hochzogen.

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FOTO: HOLSCHNEID­ER/DPA In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 wurde vor dem Berliner Reichstag die deutsche Fahne gehisst.
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FOTO: DBK Sven Armbrust war 1990 Fahnenträg­er bei der Feier zur Wiedervere­inigung in Berlin.

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