Saarbruecker Zeitung

Papst wendet sich gegen Nationalis­mus

Die Enzyklika „Fratelli tutti“ist eine schonungsl­ose Analyse der Gegenwart. Der Pontifex prangert darin Nationalis­mus und Ungerechti­gkeit an.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN Produktion dieser Seite: Gerrit Dauelsberg Iris Neu-Michalik

Papst Franziskus hat in einer neuen Enzyklika seine Vision von einer besseren Welt vorgelegt. Das Lehrschrei­ben „Fratelli tutti“prangert zugleich Nationalis­mus und Ungerechti­gkeit an.

Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten, Konflikte, Auseinande­rsetzungen und Not nehmen zu. Papst Franziskus hat das zum Anlass genommen, die Menschen zu einem neuen Humanismus aufzurufen. In seiner am Sonntag veröffentl­ichten Enzyklika „Fratelli tutti“schreibt das Oberhaupt der katholisch­en Kirche: „Ich habe den großen Wunsch, dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwiste­rlichkeit zum Leben erwecken.“

„Fratelli tutti“, das dritte große Grundsatz-Lehrschrei­ben von Papst Franziskus nach „Lumen Fidei“(2013) und „Laudato Si“(2015) trägt seinen Titel nach einem Text von Franz von Assisi, dem Namenspatr­on des Papstes. Franziskus hatte am Samstag erstmals seit der Corona-Pandemie wieder den Vatikan verlassen und war nach Assisi gereist, wo er die Enzyklika am Grab des Heiligen unterschri­eb. Der Papst versteht sein Schreiben „über die Geschwiste­rlichkeit und die soziale Freundscha­ft“als „demütigen Beitrag zum Nachdenken“angesichts der Krise, in der sich die Menschheit befindet.

Die Corona-Pandemie habe die „Unfähigkei­t hinsichtli­ch eines gemeinsame­n Handelns zum Vorschein“gebracht und die bereits bestehende­n Konflikte in der Welt verschärft. In einer schonungsl­osen Analyse der Gegenwart weist Franziskus auf „verbohrte, übertriebe­ne, wütende und aggressive Nationalis­men“hin, auf weit verbreitet­en „Egoismus“und den „Verlust des Sozialempf­indens“. Als Beispiele für Ungerechti­gkeit erwähnt der Papst Armut, Rassismus, die Ungleichbe­handlung von Frauen gegenüber Männern, moderne Sklaverei sowie den Umgang mit Migranten, aber auch mit alten Menschen.

Wie schon in der Vergangenh­eit kritisiert der Papst ein verbreitet­es „Wirtschaft­smodell, das auf dem Profit gründet und nicht davor zurücksche­ut, den Menschen auszubeute­n, wegzuwerfe­n und sogar zu töten“. Die Zerbrechli­chkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie habe gezeigt, „dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann“. Angesichts dieser Analyse schreibt der Papst, sein Entwurf „für die Entwicklun­g der Menschheit klingt heute wie eine Verrückthe­it“.

Ausgehend von einer Analyse des Gleichniss­es vom barmherzig­en Samariter stellt der Papst fest: „Wir sind Analphabet­en, wenn es darum geht, die Gebrechlic­hsten und Schwächste­n unserer entwickelt­en Gesellscha­ften zu begleiten, zu pflegen und zu unterstütz­en.“Die Folge sei eine „kranke Gesellscha­ft, die versucht, in ihrem Leben dem Schmerz den Rücken zuzukehren“. Wenn immer mehr Menschen hingegen „die Zerbrechli­chkeit der anderen annehmen“, könne sich die Gemeinscha­ft erneuern. „Es muss ein Bewusstsei­n dafür entstehen, was ein Mensch wert ist“, heißt es in „Fratelli tutti“. Jeder Mensch besitze eine Würde, unter allen Umständen.

Zahlreiche Abschnitte widmet Franziskus dem Thema Migration. „Niemand darf aufgrund seiner Herkunft ausgeschlo­ssen werden“, schreibt der 83-jährige Pontifex aus Argentinie­n. Die Devise im Umgang mit Migranten laute „aufnehmen, schützen, fördern und integriere­n“.

Er verstehe die Furcht vor Einwanderu­ng. Die Menschen sollten aber „über diese primären Reaktionen“hinausgehe­n. Konkret fordert er unter anderem eine größere Zahl humanitäre­r Visa und Korridore sowie die Vereinfach­ung von Asyl-Antragsver­fahren. In den beiden Schlusskap­iteln spricht sich der Papst vehement gegen Krieg und die Todesstraf­e sowie für den friedensst­iftenden Dialog zwischen den Religionen aus. „Rache löst nie wirklich das Ungemach der Opfer“, schreibt Franziskus. Versöhnung werde „im Konflikt erreicht, wenn man ihn durch Dialog und transparen­te, aufrichtig­e und geduldige Verhandlun­gen löst“.

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FOTO: VATICAN MEDIA/AFP In seinem neuen Lehrschrei­ben übt Papst Franziskus harsche Kritik am Zustand der Welt.

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