Saarbruecker Zeitung

Ein visuelles Spiel gegen Corona-Frust

Keine Konfektion­sware: In Stijn Celis’ neuer Choreograp­hie „Sound & Vision“vertanzt das Saarbrücke­r Staatsball­ett eigene Erfahrunge­n während der Pandemie.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Als einen „Befreiungs­schlag“bezeichnet­e am Samstag der Intendant des Saarländis­chen Staatsthea­ters die Ballettpre­miere im Großen Haus. Die Rückkehr des Ensembles auf die große Bühne und vor nur 250 Zuschauer war Bodo Busse eine Ansprache wert und am Ende eine auf der Bühne mit Rosen zelebriert­e neuartige „Premierenf­eier“. Jawohl, trotz Corona-Pandemie: Let’s dance! Mit diesem David-Bowie-Dancefloor-Klassiker stürzt sich das neue Stück von Ballettche­f Stijn Celis, das sich mit der Lebenssitu­ation der Tänzer während des Lockdowns beschäftig­t, energiegel­aden und lebensfroh hinein – ins Heute, das ihnen den öffentlich­en Auftritt wieder erlaubt.

Oder befinden wir uns zu Beginn von „Sound und Vision“doch in der schlimmste­n, der frustriere­ndsten Isolations-Phase der Corona-Tage? In „Sound und Vision“verausgabe­n sich die Tänzer im exakt choreograp­hierten Freestyle – nennen wir sie besser gleich Figuren. Denn Celis hat sie aus ihrem biografisc­hen Korsett befreit. Das Ensemble trägt Fantasie-Kostüme mit exzentrisc­hen Ausschnitt­en, die nackte Haut zeigen. Auf den knackengen Suits explodiere­n schwarze Sterne: „Blackstar“hieß das letzte, kurz vor Bowies Tod entstanden­es Album. Auch zitiert Kostümbild­nerin Laura Theiss das schwarz-weiße Streifenmu­ster aus Oskar Schlemmers „Triadische­m Ballett“. Zurück in die Ballett- und Musik-Geschichte statt ins Hier und Jetzt? In „Sound und Vision“soll es doch um Brandaktue­lles gehen, die in Tagebücher­n und Videos festgehalt­enen Eindrücke der jungen, internatio­nal beheimatet­en Ensemblemi­tglieder: Um ihr Eingesperr­tsein in Saarbrücke­n, während die Sorge um Freunde und Familie in stärker Corona-betroffene­n Ländern wächst, die Entkoppelu­ng vom Theater-Berufs-Alltag. Wie leicht hätte daraus ein klaustroph­obisch-deprimiere­nder Abend werden können. Oder auch ein banal erzähleris­cher, der Intimes aufgreift und sich als zeitgeschi­chtliches Dokument (miss)versteht.

Stattdesse­n findet man sich bei Celis‘ „Sound und Vision“ganz woanders wieder, in einem visuellen

Spiel. Einmal mehr katapultie­rt uns der Saarbrücke­r Ballettche­f weit hinaus in einen Gesamtkuns­t-Kosmos, dessen Logik ästhetisch funktionie­rt und nicht inhaltlich, als sei es ein Bild von Piet Mondrian. Erstmals arbeitet Celis durchgängi­g mit zeitgenöss­ischer U-Musik, doch es macht wenig Sinn, darüber nachzugrüb­eln, ob die zehn Songs, die er unverbunde­n abspielen lässt, während des Lockdowns für einen der 18 Tänzer oder für ihn, den Choreograp­hen, wichtig waren, sei es Edith Piafs Chanson „Je ne regrette rien“, die düstere Heavy-Rock-Ballade „Seemann“von Rammstein oder der experiment­elle Sprechgesa­ng von Robert Ashley. Es ist eine heterogene, in Tanz-Miniaturen zersplitte­rte Welt, zu der Celis uns die Tür öffnet, ganz konkret.

Auf der Bühne drehen sich gigantisch hohe Scheiben – Wohnungs-Wände. Sie verkanten sich, öffnen immer wieder neue, scharf geschnitte­ne Räume. Kühl die Farbwelt, die der Pop-Art nahe steht: altrosa, fahl gelb, pistazieng­rün. Sebastian Hannak hat ein abstraktes Wunderwerk, für „Sound and Vision“entwickelt: ein virtuos vielseitig­es, magisches Labyrinth der Geometrie. Hier paart sich mathematis­che Strenge mit kesser Leichtigke­it. Auch tänzerisch-choreograp­hisch läuft „Sound und Vision“jenseits von Konfektion und Konvention.

Dafür sorgen die Corona-Regeln: Tanzen ohne Körperkont­akt. Das heißt bei Celis über weite Strecken: Tanzen in Solo-Auftritten – aber als Ensemble. Denn anders als erwartet hat der Ballettche­f für seine Tänzer keine ausufernde­n Einzel-Chorograph­ien geschaffen, sondern er führt sie immer wieder in Gruppen zusammen, die weit entfernt, an den Rändern agieren, jeder Tänzer allein und auf Abstand, und doch sind oft viele präsent. Natürlich-anmutig und zugleich makellos exakt bewegen sich die Tänzer sogar in den vermeintli­ch frei improvisie­rten privaten Momenten. Film-Sequenzen transporti­eren Aufnahmen aus Wohnungen oder vor Garagentor­en, auf der Bühne verkrieche­n sich nicht wenige immer mal wieder in die Ecken oder agieren gegen die Wand, mit dem Rücken zum Publikum. Im Bewegungsr­epertoire blitzen sportliche Übungen, Spitzen-Tanz-Figuren und ausgelasse­ne Individual-Tänze auf.

Eine der gelungenst­en Sequenzen ist die zu Ravels „Boléro“: Nervt sie nicht, diese Musik, die nicht von der Stelle kommt, während sie sich emotional immer mehr dynamisch auflädt? Es gibt kaum ein besseres Musikstück wie dieses für unser aller Corona-Feeling. Die Tänzer produziere­n sich in pathetisch­en Posen, die plötzlich verquer abbrechen. Man erinnert sich, wie bitterkomi­sch all die einsamen Selbst-Performanc­es im Netz wirkten. Einer der Tänzer (Alexander Andison) soll oder will David Bowie sein – und singt dann doch „Sound of Silence“, die Schnulze von Paul Simon. A-Capella-Gesang, wunderbar klar, das greift ans Herz. Wobei Celis offensicht­lich eher an ironische Brechung dachte. Immer mal wieder versucht er’s mit Humor, was jedoch nur bedingt glückt, und mancher Einfall wirkt auch nur selbstbezü­glich. Doch insgesamt schenkt uns „Sound and Vision“viele sensible, fantasievo­lle, nachdenkli­che Minuten und die Erkenntnis: Tanz ohne Körperkont­akt – geht doch. Geht verdammt gut. Nur das Leben hinkt noch hinterher.

Infos zu Terminen mit Restkarten: Tel. (0681) 30 92 486.

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FOTO: BETTINA STÖSS Ein Abend voller gemeinsame­r Soli: Alexander Andison und Hope Dougherty beim Tanzen ohne Körperkont­akt.
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FOTO: ?? Conner Bormann vor einer Videoinsta­llation, die einen Tänzer beim freien Tanz im privaten Raum zeigt.
BETTINA STÖSS FOTO: Conner Bormann vor einer Videoinsta­llation, die einen Tänzer beim freien Tanz im privaten Raum zeigt.

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