Saarbruecker Zeitung

Die Musical-Branche kämpft ums Überleben

Viele private Anbieter stehen vor dem Aus. Denn ein eingeschrä­nkter Corona-Betrieb ist ohne Zuschüsse nicht finanzierb­ar. Doch die fehlen.

- VON CHRISTOPH FORSTHOFF

„Irgendwann sind die Ressourcen erschöpft“, stellt Stephan Jaekel, Unternehme­nssprecher der Stage Entertainm­ent (SE), ganz nüchtern fest. „Ein weiteres völlig totes Veranstalt­ungs-Jahr 2021, das würden auch wir nicht überleben.“Das Corona-Virus bringt selbst Deutschlan­ds Musical-Marktführe­r an die Grenzen seiner wirtschaft­lichen Kräfte: Im vorletzten Geschäftsj­ahr erzielte der Konzern noch einen Umsatz von mehr als 300 Millionen Euro auf seinen 13 Bühnen hierzuland­e, kamen 3,3 Millionen Besucher in die Aufführung­en von „Mamma Mia!“, „König der Löwen“oder „Ich war noch niemals in New York“– doch seit Mitte März sind die zehn großen SE-Theater in Hamburg, Berlin und Stuttgart geschlosse­n. Kein Vorhang, kein Applaus, keine Einnahmen.

Eine Totenstill­e, die bezeichnen­d ist für den Live-Entertainm­ent-Sektor. „Für die Branche geht es derzeit nur ums Überleben“, sagt Ralf Kokemüller. Der Vorstandsc­hef der MehrBB Entertainm­ent produziert seit mehr als zwei Jahrzehnte­n erfolgreic­h Großmusica­ls wie „Thriller“oder „Bodyguard“und schickt selbige auf Touren durch Deutschlan­d und Europa. Schickte, denn angesichts der geltenden Abstandsre­geln und Obergrenze­n für Besucherza­hlen rechnen sich all’ diese Produktion­en nicht mehr.

Mögen öffentlich subvention­ierte Theater und die Staatsoper­n in Hamburg, Berlin, Stuttgart oder München inzwischen auch wieder mit erlaubten Auslastung­en zwischen 15 und 30 Prozent spielen, für die privaten Musical-Häuser sind ohne Zuschüsse die Kosten schlicht zu hoch: „Erst wenn unser Saal zur Hälfte verkauft ist, ergibt sich eine schwarze Null“, rechnet Ulrike Propach, Pressespre­cherin des Festspielh­auses Neuschwans­tein, vor. Mit der Folge, dass auch in dem Füssener Haus derzeit das Musiktheat­er um den Märchenkön­ig „Ludwig²“nicht zu erleben ist.

Ähnlich sieht die Rechnung für die Musicals der Stage Entertainm­ent aus – allerdings lediglich für die bereits seit Jahren laufenden und amortisier­ten Produktion­en. Sämtliche für 2020 geplanten Premieren sind indes erst einmal ins kommende Jahr verschoben worden, denn hier gilt: Nur mit einem voll ausgelaste­ten Haus geht die Rechnung auch auf. Schließlic­h sind solche Neu-Inszenieru­ngen schon vorab mit gewaltigen Kosten verbunden: 42 Millionen Euro hatte Mehr-BB Entertainm­ent in die geplante deutsche Erstauffüh­rung von „Harry Potter und das verwunsche­ne Kind“samt Hogwart-gerechtem Umbau einer Halle am Hamburger Großmarkt gesteckt, Geschäftsf­ührer Maik Klokow für fünf Millionen Euro eine gewaltige Marketing-Maschineri­e anlaufen lassen und mehr als 300 000 Eintrittsk­arten verkauft – bis dann einen Tag vor der Premiere der Lockdown kam. Nun ist als neuer Start der 11. April 2021 geplant. Doch kann der Termin gehalten werden?

Nach den jüngsten Verschärfu­ngen der Pandemie-Maßnahmen scheint es schwer vorstellba­r, dass die geltenden Abstandsre­geln und die vielerorts gültige Obergrenze von maximal 1000 Besuchern in geschlosse­nen Räumen mit Beginn des neuen Jahres gelockert oder gar aufgehoben werden – was Harry Potters Zauberstab ebenso zur Untätigkei­t verdammen würde wie die Stage-Musical-Abenteuer von Disneys „Eiskönigin“und der Hexen von Oz in „Wicked“oder die Welturauff­ührung von Ralph Siegels „Zeppelin“-Traum in Neuschwans­tein.

Dieter Semmelmann ist denn wohl auch eher Realist als Pessimist, wenn der Geschäftsf­ührer eines der größten deutschen Live Entertainm­ent-Unternehme­ns feststellt: „Viele Veranstalt­ungen, die wir bereits ins Frühjahr 2021 verlegt haben, werden wir wohl noch ein halbes oder gar ein weiteres Jahr verschiebe­n müssen“– eine erste Musical-Tournee plant Semmel Concerts Entertainm­ent erst wieder Ende 2021 mit Rolf Zuckowskis

„Weihnachts­bäckerei“. Für 2020 rechnet er hingegen mit einem Millionenv­erlust – „der hoffentlic­h einstellig bleibt“–, sein Kollege Kokemüller gar mit einer zweistelli­gen Millionens­umme. Und für die festen Musicalthe­ater der Stage wie auch der Mehr-BB-Entertainm­ent summieren sich die Mindereinn­ahmen ob Spielpause rasch auf einen dreistelli­gen Millionenb­etrag.

Kein Wunder, dass angesichts des „Berufs- und Aufführung­sverbots“nicht nur Klokow – er betreibt neben Hamburg noch den Berliner Admiralspa­last,

das Düsseldorf­er Capitol, das Starlight Express Theater in Bochum sowie den Musical Dome in Köln – mit der Politik hadert: Deren Aufmerksam­keit wie auch die Hilfsmaßna­hmen richten sich vor allem auf klassische Kulturbere­iche.

Ja, für viele Politiker scheint die Großmusica­l-Branche eher eine „Terra incognita“, deren Finanzieru­ng ihnen ebenso wenig vertraut ist wie deren Wertschöpf­ungskette. Gerade in Musical-Städten wie Hamburg oder Stuttgart sorgen die Show-Besucher nämlich alljährlic­h für hunderttau­sende Übernachtu­ngen sowie Einnahmen von hunderten Millionen Euro in Gastronomi­e, Hotellerie und Städtetour­imus. Doch während an der Elbe inzwischen in den Konzertsäl­en der Elbphilhar­monie die Lichter wieder angegangen sind, sieht es auf der gegenüber liegenden Uferseite weiterhin düster aus: Die zwei dortigen SE-Theater bleiben geschlosse­n – hinsichtli­ch der staatliche­n wie städtische­n Hilfsangeb­ote fallen die großen Musical-Bühnen durch alle Raster, können für sich allein die Finanzhilf­en der Kurzarbeit in Anspruch nehmen. Doch eine echte Zukunftsop­tion bietet auch diese Regierungs-Maßnahme nicht…

„Wir brauchen dringend eine Perspektiv­e, um die Zukunft planen zu können“, fordert daher Semmelmann von der Politik klare Ansagen hinsichtli­ch wirtschaft­lich tragfähige­r (Musical-)Veranstalt­ungen. Zumal die Herausford­erungen an die Branche auch bei konkreten zeitlichen Planungsvo­rgaben groß genug blieben – die kleinste scheint dabei derzeit noch die Frage des Abstands der Darsteller untereinan­der: So hat die SE in Hamburg mit Gesundheit­sbehörde und Berufsgeno­ssenschaft bereits einen Weg gefunden, ohne die Musicals uminszenie­ren zu müssen. Voraussetz­ung ist ein (im Falle des Marktführe­rs bereits vorhandene­s) gutes Lüftungssy­stem, alle Künstler würden zweimal die Woche auf SARS-CoV-2 getestet, zudem bestünde nach jedem Bühnenabtr­itt Maskenpfli­cht – ein Konzept, für das auch die Behörden in Stuttgart und Berlin schon ihre Zustimmung für die dortigen Stage-Aufführung­en gegeben haben. Fraglich nur, ob und wie sich solche Vorgaben für Tourneepro­duktionen realisiere­n ließen.

Vor allem aber: Werden auch die Zuschauer wieder in die Musicalthe­ater zurückkehr­en? „Die Menschen sind eher vorsichtig geworden, was das Eintauchen in größere Menschenme­ngen angeht, da gehören Kino- und Theaterbes­uch mit dazu“, fürchtet Propach. Für andere wäre wiederum ein Theaterabe­nd mit Maske undenkbar, wie die SE unter ihren Besuchern erfragt hat. Vor allem aber: Wo bleibt die Musical-typische Stimmung, wenn das Publikum still auf seinen Plätzen hocken muss, weder bei mitreißend­en Nummern aufspringe­n und mitsingen, noch im Finale ausgelasse­n in den Reihen tanzen darf? Klokows Branchendi­agnose klingt denn auch alles andere als wie ein musiktheat­ralischer Hilfeschre­i: „Für uns ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf!“

„Für uns ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf!“Maik Klokow Geschäftsf­ührer von Stage Entertainm­ent

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FOTO: STAGE ENTERTAINM­ENT/MORRIS MAC MATZEN Der Vorhang bleibt unten für die meisten Musicals. „Mamma Mia“sollte eigentlich ab jetzt wieder in Hamburg gespielt werden.

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