Chaostage in Kirgisistan
Mehr als 1000 Verletzte gibt es bei Straßenkämpfen und Dauerprotesten. Auslöser sind Hinweise auf massiven Wahlbetrug.
Wladimir Putin hat es immer gewusst. „Revolutionen führen ins Chaos.“So hat es der russische Präsident wiederholt formuliert und dabei gern auch betont, dass „wir in Russland nichts dergleichen zulassen werden“. Nichts dergleichen, das bezog sich auf demokratische Aufbrüche wie die Rosenrevolution in Georgien 2003 und die ukrainische Revolution in Orange 2004. Aktuell ist sich Putin mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko einig, dass die Dauerproteste im Land nur zu Niedergang und Zerfall führen, wenn man sie nicht unterdrückt. Am stärksten bestätigt fühlen dürfte sich der Kremlchef aber beim Blick in das zentralasiatische Kirgisistan.
In der Hauptstadt Bischkek kämpfen seit der Parlamentswahl am 4. Oktober Milizen, Straßenbanden und Bürgerwehren, aber auch politische Aktivisten um Macht und Einfluss. Auslöser waren Hinweise auf einen massiven Wahlbetrug. Beobachter vor Ort berichten von mittlerweile mehr als 1000 Verletzten und mindestens einem Toten. Die Polizei ist überfordert oder mischt bei den Kämpfen offen mit, auch weil niemand so recht sagen kann, wer eigentlich im Land das Sagen hat. Denn es gibt zwar Menschen, die den Anspruch erheben, reguläre Repräsentanten des Staates zu sein. Aber der Fall von Präsident Sooronbai Dscheenbekow zeigt, dass Wunsch und Wirklichkeit in diesen kirgisischen Chaostagen weit auseinanderliegen. Ende vergangener Woche verhängte der 61-Jährige erst mit großer Geste den Ausnahmezustand.
Dann deutete er seinen Rücktritt an. Zuletzt tauchte er unter. Die reale Macht scheint Dscheenbekow verloren zu haben. Sie liegt aktuell eher bei Sadyr Dschaparow. Der langjährige nationalistische Oppositionsführer saß wegen eines versuchten Staatsstreichs bis vor kurzem im Gefängnis. Dann befreiten ihn seine Anhänger inmitten der Straßenschlachten. Das Parlament bestimmte Dschaparow zum neuen Premier. Doch was heißt das schon? Schließlich hat die Zentrale Wahlkommission die Abstimmung vom 4. Oktober inzwischen für ungültig erklärt.
Außerdem ist der Nationalist Dschaparow nicht der einzige Politiker, der das Amt des Regierungschefs für sich beansprucht. Auch Tilek Toktogasiew hat sich zum Übergangspremier ausgerufen. Der gerade 30 Jahre alte Geschäftsmann genießt die größte Unterstützung in der Bevölkerung. Toktogasiew ist mit dem Bau von Gewächshäusern reich geworden. Seine Ideen für eine kirgisische Biolandwirtschaft haben ihn gerade bei jungen Menschen populär gemacht. Viele Experten erwarten in dieser Lage, dass es zu Neuwahlen kommen dürfte.
„Viele junge Menschen im Land, die das Gesicht der aktuellen Proteste prägen, haben genug davon, dass wieder die alten Politiker, Beamten und kriminellen Clans über die Aufteilung der Macht im Land entscheiden“, sagt die kirgisische Politologin Elmira Nogoibajewa. Ob der 30-jährige Toktogasiew allerdings die Stärke hat, den Traum der jungen Generation von einer stabilen, wirtschaftlich florierenden Republik in die Realität umzusetzen, ist eine völlig offene Frage. Das betonen vor allem jene Menschen in Kirgisistan, die sich noch an das Trauma der zunächst siegreichen und später gescheiterten Tulpenrevolution von 2005 erinnern. Auch damals protestierten in Bischkek Zehntausende und erzwangen schließlich den Rücktritt von Askar Akajew. Der autoritär herrschende Präsident hatte die Führung der Republik noch zu Sowjetzeiten übernommen und Kirgisistan dann in die Unabhängigkeit geführt. Doch im Land trieb die korrupte Willkürherrschaft des Präsidenten die Menschen 2005 in Massen auf die Straßen. Wie in Georgien und der Ukraine gelang der Sturz des Machthabers. Aber hier wie dort scheiterte der Neuanfang.