Corona-Welle jetzt im Saarland besonders stark
Statistisch gesehen steckt im Saarland ein Infizierter nun zwei Personen an. Experten appellieren an die Bevölkerung, die Regeln einzuhalten.
(gö/gda/dpa) Die Zahl der mit dem Corona-Virus infizierten Saarländer steigt besorgniserregend. Das Gesundheitsministerium und die Gesundheitsämter meldeten am Freitag 142 neue Fälle, 14 mehr als noch am Vortag. Als letzter Kreis im Saarland überschritt der Regionalverband Saarbrücken am Donnerstag mit einem Inzidenzwert von 38,3 den ersten Warnwert von 35 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner Drei Landkreise im Saarland gelten bereits als Risikogebiet: Merzig-Wadern, St. Wendel und Neunkirchen. Hier wurden innerhalb der vergangenen sieben Tage mehr als 50 Fälle pro 100 000 Einwohner registriert.
Und noch eine weitere Zahl ist alarmierend: Im Saarland steckt statistisch gesehen ein mit dem Virus Infizierter zwei weitere Menschen an – ein Spitzenwert in Deutschland. Das geht aus einer Modellrechnung hervor, die der Saarbrücker Pharmazie-Professor
Thorsten Lehr in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der
Homburger Uniklinik entwickelt hat. Im Bundesschnitt liegt dieser so genannte R-Wert derzeit bei 1,56. Lehr nennt diese Zahl erschreckend. Sollte die Ansteckungsrate so hoch bleiben, könnte es in zwei bis drei Wochen deutschlandweit 20 000 Neuinfektionen pro Tag geben. Um das zu verhindern, müssten sich jetzt alle an Abstands- und
Hygieneregeln halten. Auch Feiern und Zusammenkünfte müssten eingeschränkt werden.
Derweil hat das Robert-Koch-Institut die französische Region Grand Est am Donnerstag erneut zum Risikogebiet erklärt. Die Einstufung soll am Samstag in Kraft treten. Nach der aktuellen Verordnung zu Quarantänemaßnahmen für Einund Rückreisende sind Berufspendler von der zweiwöchigen Quarantänepflicht ausgenommen, ebenso wie Personen, die sich weniger als 72 Stunden in der Region Grand Est aufgehalten haben oder einen triftigen Reisegrund haben. Auch ein negativer Coronatest, der nicht älter ist als 48 Stunden, könne von der Quarantänepflicht befreien.
Die Rechnung ist einfach und Mahnung zugleich. Wenn die Zahl der Corona-Neuinfektionen weiter so in die Höhe schnellt wie in den vergangenen Tagen, dann wird sich spätestens Anfang kommenden Jahres fast jeder Saarländer mit dem Corona-Virus infiziert haben. Das sagt einer, der es wissen muss. Professor Thorsten Lehr, der an der Universität des Saarlandes den Lehrstuhl für klinische Pharmazie innehat, hat mit seinem Team in Zusammenarbeit mit Forschern des Homburger Uniklinikums ein mathematisches Modell entwickelt, mit dem sich vorhersagen lässt, wie es mit der Corona-Pandemie weitergeht. Und diese Prognosen sind beängstigend.
„Wenn die Infektionslage so anhält wie derzeit, erwarten wir in einzelnen Bundesländern wie dem Saarland in zwei bis vier Wochen ähnlich viele Covid-19 Patienten auf den Normal- und Intensivstationen“, warnt der Professor. Auch gestern ging die Zahl der bestätigten Neuinfektionen wieder steil nach oben. Meldeten am Mittwoch die Gesundheitsämter noch 128 neue Corona-Fälle, waren es gestern bereits 142 – eine Entwicklung, die auch dem Virologen Dr. Jürgen Rissland Kopfschmerzen bereitet, auch wenn man das deutschlandweite Infektionsgeschehen betrachtet. 10 000 bis 15 000 bestätigte neue Coronafälle pro Tag in Deutschland hält der ärztliche Leiter des Instituts für Virologie am Homburger Uniklinikum in den kommenden Wochen nicht für unrealistisch – zumal die vom Robert-Koch-Institut ermittelten Zahlen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung das aktuelle
Infektionsgeschehen abbilden.
Der von dem Team um Professor Thorsten Lehr entwickelte Online-Simulator zeichnet sogar noch ein düstereres Bild – nämlich, dass es in Deutschland in zwei bis drei Wochen sogar 20 000 Corona-Infektionsfälle pro Tag geben könnte, wenn die Ansteckungsrate so hoch bleibt wie derzeit. Im Saarland ist diese momentan besonders besorgniserregend. Während im Bundesschnitt jeder mit dem Coronavirus Infizierte rein rechnerisch in der Regel 1,56 Menschen ansteckt, liegt dieser so genannte R-Wert nach den von Lehr ermittelten Daten im Saarland bereits bei 2,0.
Virologe Rissland erklärt sich das damit, dass „wir gerade in den letzten Wochen spezielle lokale Ausbrüche hatten, die im Zusammenhang mit verschiedenen Feierlichkeiten standen“. Und er warnt: „Wenn sich dieses exponentielle Wachstum fortsetzt, haben wir in zwei bis drei Wochen Bettenbelegungen mit Covid-19-Patienten, wie sie in Spitzenzeiten der ersten Welle Mitte April zu verzeichnen waren“– eine Einschätzung, die übrigens auch die Modellberechnungen seines Kollegen Lehr bestätigen, an denen Risslands Team von der Homburger Virologie beteiligt ist.
Deshalb, auch darin sind sich die beiden Experten einig, müssen jetzt dringend Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Für Lehr bedeutet das vor allem Kontaktverbote und die Beschränkung von Feiern und sonstigen Zusammenkünften. Die Regelungen, auf die sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten am Mittwoch geeinigt haben, gehen ihm dabei nicht weit genug. Danach soll etwa in einem Kreis oder einer kreisfreien Stadt, in der es innerhalb von sieben Tagen 35 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner gibt, die Gästezahl bei privaten Feiern auf 25 Teilnehmer im öffentlichen und 15 Teilnehmern im privaten Raum begrenzt werden. Ab 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen soll es eine Begrenzung bei privaten Feiern auf maximal zehn Teilnehmern im öffentlichen Raum sowie auf höchstens zehn Teilnehmern aus maximal zwei
Hausständen im privaten Raum geben. Lehr hätte sich an dieser Stelle striktere Regeln gewünscht. Denn es mache bereits einen großen Unterschied, ob ein Infizierter pro Tag mit drei Personen Kontakt habe oder mit einer.
Für den Virologen Rissland stellt sich vor allem die Frage, ob sich die Menschen an die neuen Regeln und Empfehlungen halten. Es gehe weniger um einzelne Vorschriften, sondern darum, dass alle mitziehen, findet er. „Wir stehen vor einer gewissen Weichenstellung. Die Frage ist, schaffen wir es noch, den Anstieg zu begrenzen.“Das gelinge aber nur, wenn sich alle mit ihren Mitmenschen solidarisch zeigten. „Abstandhalten ist das A und O“, sagt Rissland.
Sein Kollege Lehr appelliert denn auch besonders an junge Leute, sich an die Regeln zu halten, damit sie Risikogruppen wie ältere Menschen nicht anstecken. Momentan seien derzeit vor allem junge Menschen mit Covid-19 infiziert. Deshalb
sei auch die Zahl derjenigen, die im Krankenhaus beziehungsweise auf einer Intensivstation behandelt werden müssten, noch relativ gering. Wenn aber die Infektionszahlen so hoch blieben wie derzeit, werde es auch wieder eine stärkere Durchmischung mit älteren Bevölkerungsgruppen geben und es könnten vermehrt ältere Patienten betroffen sein. Doch nicht nur das. „Die Zahl der Todesfälle steigt bereits jetzt auf beunruhigende Weise. Sie könnte sich mit mehrwöchiger Verzögerung stark erhöhen, denn nach wie vor versterben ein Fünftel der Covid-19-Intensivpatienten. Das haben unsere Berechnungen bestätigt,“warnt der Pharmazie-Professor.
Dass die Krankenhäuser in nächster Zeit nicht mehr genügend Betten für Covid-19-Patienten zur Verfügung haben werden, glaubt Lehr indessen nicht. Das sei auch zum bisherigen Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr niemals der Fall gewesen. Hinzu komme, dass Ärzte und Pflege mittlerweile sehr viele Erfahrungen mit der Behandlung des Coronavirus gesammelt hätten und auf einen plötzlichen Anstieg der Patientenzahlen bestens vorbereitet seien.
Rissland wagt noch eine andere positive Prognose. Er will es nicht ausschließen, dass vielleicht noch in diesem Jahr ein Corona-Impfstoff auf den Markt kommt, „wenn alles super optimal läuft“. Auf jeden Fall rechnet er aber im Laufe des kommenden Jahres damit. Allerdings werde es zunächst wohl nur eine begrenzte Menge an Impfdosen geben, sagt der Experte voraus und hofft, dass mehrere Impfstoff-Kandidaten die Zulassung erhalten. „Dann stünde auch mehr Impfstoff zur Verfügung.“