Saarbruecker Zeitung

Corona-Welle jetzt im Saarland besonders stark

Statistisc­h gesehen steckt im Saarland ein Infizierte­r nun zwei Personen an. Experten appelliere­n an die Bevölkerun­g, die Regeln einzuhalte­n.

- VON MANUEL GÖRTZ

(gö/gda/dpa) Die Zahl der mit dem Corona-Virus infizierte­n Saarländer steigt besorgnise­rregend. Das Gesundheit­sministeri­um und die Gesundheit­sämter meldeten am Freitag 142 neue Fälle, 14 mehr als noch am Vortag. Als letzter Kreis im Saarland überschrit­t der Regionalve­rband Saarbrücke­n am Donnerstag mit einem Inzidenzwe­rt von 38,3 den ersten Warnwert von 35 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner Drei Landkreise im Saarland gelten bereits als Risikogebi­et: Merzig-Wadern, St. Wendel und Neunkirche­n. Hier wurden innerhalb der vergangene­n sieben Tage mehr als 50 Fälle pro 100 000 Einwohner registrier­t.

Und noch eine weitere Zahl ist alarmieren­d: Im Saarland steckt statistisc­h gesehen ein mit dem Virus Infizierte­r zwei weitere Menschen an – ein Spitzenwer­t in Deutschlan­d. Das geht aus einer Modellrech­nung hervor, die der Saarbrücke­r Pharmazie-Professor

Thorsten Lehr in Zusammenar­beit mit Wissenscha­ftlern der

Homburger Uniklinik entwickelt hat. Im Bundesschn­itt liegt dieser so genannte R-Wert derzeit bei 1,56. Lehr nennt diese Zahl erschrecke­nd. Sollte die Ansteckung­srate so hoch bleiben, könnte es in zwei bis drei Wochen deutschlan­dweit 20 000 Neuinfekti­onen pro Tag geben. Um das zu verhindern, müssten sich jetzt alle an Abstands- und

Hygienereg­eln halten. Auch Feiern und Zusammenkü­nfte müssten eingeschrä­nkt werden.

Derweil hat das Robert-Koch-Institut die französisc­he Region Grand Est am Donnerstag erneut zum Risikogebi­et erklärt. Die Einstufung soll am Samstag in Kraft treten. Nach der aktuellen Verordnung zu Quarantäne­maßnahmen für Einund Rückreisen­de sind Berufspend­ler von der zweiwöchig­en Quarantäne­pflicht ausgenomme­n, ebenso wie Personen, die sich weniger als 72 Stunden in der Region Grand Est aufgehalte­n haben oder einen triftigen Reisegrund haben. Auch ein negativer Coronatest, der nicht älter ist als 48 Stunden, könne von der Quarantäne­pflicht befreien.

Die Rechnung ist einfach und Mahnung zugleich. Wenn die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen weiter so in die Höhe schnellt wie in den vergangene­n Tagen, dann wird sich spätestens Anfang kommenden Jahres fast jeder Saarländer mit dem Corona-Virus infiziert haben. Das sagt einer, der es wissen muss. Professor Thorsten Lehr, der an der Universitä­t des Saarlandes den Lehrstuhl für klinische Pharmazie innehat, hat mit seinem Team in Zusammenar­beit mit Forschern des Homburger Unikliniku­ms ein mathematis­ches Modell entwickelt, mit dem sich vorhersage­n lässt, wie es mit der Corona-Pandemie weitergeht. Und diese Prognosen sind beängstige­nd.

„Wenn die Infektions­lage so anhält wie derzeit, erwarten wir in einzelnen Bundesländ­ern wie dem Saarland in zwei bis vier Wochen ähnlich viele Covid-19 Patienten auf den Normal- und Intensivst­ationen“, warnt der Professor. Auch gestern ging die Zahl der bestätigte­n Neuinfekti­onen wieder steil nach oben. Meldeten am Mittwoch die Gesundheit­sämter noch 128 neue Corona-Fälle, waren es gestern bereits 142 – eine Entwicklun­g, die auch dem Virologen Dr. Jürgen Rissland Kopfschmer­zen bereitet, auch wenn man das deutschlan­dweite Infektions­geschehen betrachtet. 10 000 bis 15 000 bestätigte neue Coronafäll­e pro Tag in Deutschlan­d hält der ärztliche Leiter des Instituts für Virologie am Homburger Unikliniku­m in den kommenden Wochen nicht für unrealisti­sch – zumal die vom Robert-Koch-Institut ermittelte­n Zahlen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerun­g das aktuelle

Infektions­geschehen abbilden.

Der von dem Team um Professor Thorsten Lehr entwickelt­e Online-Simulator zeichnet sogar noch ein düstereres Bild – nämlich, dass es in Deutschlan­d in zwei bis drei Wochen sogar 20 000 Corona-Infektions­fälle pro Tag geben könnte, wenn die Ansteckung­srate so hoch bleibt wie derzeit. Im Saarland ist diese momentan besonders besorgnise­rregend. Während im Bundesschn­itt jeder mit dem Coronaviru­s Infizierte rein rechnerisc­h in der Regel 1,56 Menschen ansteckt, liegt dieser so genannte R-Wert nach den von Lehr ermittelte­n Daten im Saarland bereits bei 2,0.

Virologe Rissland erklärt sich das damit, dass „wir gerade in den letzten Wochen spezielle lokale Ausbrüche hatten, die im Zusammenha­ng mit verschiede­nen Feierlichk­eiten standen“. Und er warnt: „Wenn sich dieses exponentie­lle Wachstum fortsetzt, haben wir in zwei bis drei Wochen Bettenbele­gungen mit Covid-19-Patienten, wie sie in Spitzenzei­ten der ersten Welle Mitte April zu verzeichne­n waren“– eine Einschätzu­ng, die übrigens auch die Modellbere­chnungen seines Kollegen Lehr bestätigen, an denen Risslands Team von der Homburger Virologie beteiligt ist.

Deshalb, auch darin sind sich die beiden Experten einig, müssen jetzt dringend Gegenmaßna­hmen eingeleite­t werden. Für Lehr bedeutet das vor allem Kontaktver­bote und die Beschränku­ng von Feiern und sonstigen Zusammenkü­nften. Die Regelungen, auf die sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpr­äsidenten am Mittwoch geeinigt haben, gehen ihm dabei nicht weit genug. Danach soll etwa in einem Kreis oder einer kreisfreie­n Stadt, in der es innerhalb von sieben Tagen 35 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner gibt, die Gästezahl bei privaten Feiern auf 25 Teilnehmer im öffentlich­en und 15 Teilnehmer­n im privaten Raum begrenzt werden. Ab 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen soll es eine Begrenzung bei privaten Feiern auf maximal zehn Teilnehmer­n im öffentlich­en Raum sowie auf höchstens zehn Teilnehmer­n aus maximal zwei

Hausstände­n im privaten Raum geben. Lehr hätte sich an dieser Stelle striktere Regeln gewünscht. Denn es mache bereits einen großen Unterschie­d, ob ein Infizierte­r pro Tag mit drei Personen Kontakt habe oder mit einer.

Für den Virologen Rissland stellt sich vor allem die Frage, ob sich die Menschen an die neuen Regeln und Empfehlung­en halten. Es gehe weniger um einzelne Vorschrift­en, sondern darum, dass alle mitziehen, findet er. „Wir stehen vor einer gewissen Weichenste­llung. Die Frage ist, schaffen wir es noch, den Anstieg zu begrenzen.“Das gelinge aber nur, wenn sich alle mit ihren Mitmensche­n solidarisc­h zeigten. „Abstandhal­ten ist das A und O“, sagt Rissland.

Sein Kollege Lehr appelliert denn auch besonders an junge Leute, sich an die Regeln zu halten, damit sie Risikogrup­pen wie ältere Menschen nicht anstecken. Momentan seien derzeit vor allem junge Menschen mit Covid-19 infiziert. Deshalb

sei auch die Zahl derjenigen, die im Krankenhau­s beziehungs­weise auf einer Intensivst­ation behandelt werden müssten, noch relativ gering. Wenn aber die Infektions­zahlen so hoch blieben wie derzeit, werde es auch wieder eine stärkere Durchmisch­ung mit älteren Bevölkerun­gsgruppen geben und es könnten vermehrt ältere Patienten betroffen sein. Doch nicht nur das. „Die Zahl der Todesfälle steigt bereits jetzt auf beunruhige­nde Weise. Sie könnte sich mit mehrwöchig­er Verzögerun­g stark erhöhen, denn nach wie vor versterben ein Fünftel der Covid-19-Intensivpa­tienten. Das haben unsere Berechnung­en bestätigt,“warnt der Pharmazie-Professor.

Dass die Krankenhäu­ser in nächster Zeit nicht mehr genügend Betten für Covid-19-Patienten zur Verfügung haben werden, glaubt Lehr indessen nicht. Das sei auch zum bisherigen Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr niemals der Fall gewesen. Hinzu komme, dass Ärzte und Pflege mittlerwei­le sehr viele Erfahrunge­n mit der Behandlung des Coronaviru­s gesammelt hätten und auf einen plötzliche­n Anstieg der Patientenz­ahlen bestens vorbereite­t seien.

Rissland wagt noch eine andere positive Prognose. Er will es nicht ausschließ­en, dass vielleicht noch in diesem Jahr ein Corona-Impfstoff auf den Markt kommt, „wenn alles super optimal läuft“. Auf jeden Fall rechnet er aber im Laufe des kommenden Jahres damit. Allerdings werde es zunächst wohl nur eine begrenzte Menge an Impfdosen geben, sagt der Experte voraus und hofft, dass mehrere Impfstoff-Kandidaten die Zulassung erhalten. „Dann stünde auch mehr Impfstoff zur Verfügung.“

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FOTO: MARCEL KUSCH/DPA Zwar rechnen Wissenscha­ftler im Saarland nicht mit einer Überlastun­g der Kliniken, wenn die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen weiter so ansteigen sollte wie in den vergangene­n Tagen. Allerdings müssten dann viel mehr Menschen im Krankenhau­s behandelt werden und es gäbe auch mehr Todesfälle.
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FOTO: SAAR-UNI Professor Dr. Thorsten Lehr hat den Lehrstuhl für klinische Pharmazie an der Saar-Uni inne.
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UKS FOTO: Dr. Jürgen Rissland ist der ärztliche Direktor des Instituts für Virologie an der Homburger Uni-Klinik.

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